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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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schnell vorbei, dass ich ihn genauso gut nur in meiner Einbildung herbeigezaubert haben konnte.
    Dann legte Leo seine warmen Hände um mein Gesicht und sah mich sorgenvoll an. »Du warst bewusstlos, als ich bei dir ankam«, flüsterte er. »Ich hatte solche Angst. Ich hab dich in den einen Arm genommen und es irgendwie geschafft, mit dem anderen Arm ans Ufer zurückzuschwimmen. Und als ich dich in die Grotte getragen habe, hast du angefangen, Dinge zu flüstern, die ich nicht wirklich verstehen konnte. Doch ich habe gehört, wie du gesagt hast: ›Ich will nicht weggehen.‹«
    »Daran erinnere ich mich«, murmelte ich und nahm Leos Arm, um ihn ganz fest zu halten. »Dann hast du mich geküsst«, fügte ich hinzu.
    Leos Mund verzog sich wieder zu diesem unauslöschlichen schiefen Lächeln. »Ich hab dich nicht geküsst. Ich habe dir eine Mund-zu-Mund-Beatmung verpasst. Wahrscheinlich kam sie dir nur wie ein Kuss vor.« Wie um mir den Unterschied zu verdeutlichen, zog Leo mein Gesicht näher an seins und berührte meine Lippen.
    Obwohl nur kurz, war sein Kuss herrlich für mich. Doch irgendwie konnte ich nicht begreifen, dass Leo und ich anscheinend die Rollen getauscht hatten – jetzt war er derjenige, der eine Erklärung für alles hatte, während ich bereit war, mich einfach vom Lauf der Ereignisse tragen zu lassen.
    War alles nur eine Halluzination oder ein Traum gewesen? Oder hatte ich in diesem flüchtigen Augenblick kurz vor meiner Bewusstlosigkeit die Wahrheit erkannt? Hatte ich gesehen, was Leo zu verbergen suchte?
    Würde ich es jemals wissen?
    Und dann kam mir in den Sinn, dass ich es vielleicht gar nicht wissen musste. Manche Dinge brauchten vielleicht keine Erklärung.
    »Fühlst du dich stark genug, um aufzustehen?«, fragte Leo, während ich über meine kalten nackten Beine rieb. »Ich sollte dich nach Hause bringen.«
    Nach Hause. Wo Mom wartete. Auch wenn sie bei meiner Rückkehr schon schlief, so musste ich ihr doch morgen Früh erzählen, was geschehen war. Es würde mir nicht möglich sein, die Kratzer oder andere Nebenwirkungen des Unfalls zu verbergen. Ich stieß einen Seufzer aus, so tief wie das Meer.
    Behutsam zog mich Leo auf die Füße und half mir in meine flachen Schuhe zurück. Meine Beine zitterten, während ich Leo dabei zusah, wie er sein T-Shirt überzog und dann Isadoras Kleid aufhob. Er schüttelte es aus, bevor er eszusammenballte und es sich unter den Arm stopfte. Dann bot er mir an, mich zu tragen, doch ich lehnte ab, da ich sehen wollte, ob ich allein gehen konnte. Ich konnte, allerdings mit leicht unsicherem Tritt. Zu einem Kompromiss bereit ließ ich es zu, dass Leo seinen Arm eng um meine Taille schlang, damit ich den Großteil meines Gewichts auf ihm abstützen konnte.
    Als wir aus der Grotte schlüpften, war ich dankbar für den Schutz der Nacht. Ich war mir bewusst, dass wir einen seltsamen Anblick boten: ich in Badeanzug und Leos Kapuzenjacke, nass und ziemlich mitgenommen, und Leo in Badehose und barfuß, das Kleid unter dem Arm und mich stützend.
    Schweigend überquerten wir den Strand in Richtung Hafen und stiegen hinkend und vorsichtig den Kieselweg nach Triton’s Pass hinauf. Bevor ich mich versah, hatten wir auch schon die dicken Eichen und das Louisianamoos am Glaucus Way erreicht.
    »Ich glaube, von hier aus schaffe ich es allein«, sagte ich zu Leo und blieb stehen. Ich fühlte mich sehr sicher in seinen Armen – so sicher, wie ich mich unter Wasser gefühlt hatte –, doch ich wusste, dass er Moms Zorn, schlimmer als der eines Kraken, auf sich ziehen würde, wenn er ihr jetzt wieder begegnete. Ich nahm Isadoras Kleid und steckte den Haustürschlüssel in die Rocktasche. »Den restlichen Weg laufe ich allein und schleich mich dann einfach ins Haus …«
    Leo schenkte mir einen ›Du-machst-wohl-Witze‹-Blick, bevor er wortlos meine Taille losließ und mich dann schwungvoll auf seine Arme hievte. Er gab mir keine Gelegenheit zu protestieren, während er mich kurzerhand über den Glaucus Way zum vor uns geisterhaft aufragenden Alten Seemann trug.
    Ich kam mir ausgesprochen altmodisch glamourös vor – fast wie ein Südstaatenfräulein aus der Zeit des Bürgerkriegs. Am Ende der Verandastufen angekommen zog Leo den Schlüssel aus der Tasche des Kleids und steckte ihn ins Türschloss.
    »Ich will sofort eine Erklärung!«
    Ich hörte Moms wütende Stimme, bevor ich ihre gesamte Erscheinung in der Vorhalle sah. Ihr Gesicht war bleich. Sie trug noch immer das

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