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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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bringen wolle, um sich danach um mich zu kümmern. Mr. Illingworth sagte, er sei froh, dass es mir gut gehe, dann traten er und Mom, leise miteinander redend, zur Tür hinaus.
    Leo und ich blickten einander an. Ich holte tief Luft.
    Dies war der Moment – das winzige Zeitfenster, in dem wir uns verabschieden konnten. Ich vernahm nicht länger das surrende Geräusch des Deckenventilators, und die sich lichtende Nacht schien den Atem anzuhalten, während wir in der dämmrigen Vorhalle standen.
    Mir kam eine Idee. »Vielleicht«, begann ich mit trauriger Stimme, »kann ich ja hier auf Selkie bleiben. Mit dir.« Ich nahm seine Hand. »Im Research Center gibt’s bestimmt noch Platz für eine weitere Praktikantin, oder?« Nach all dem konnte ich mir nun wirklich nicht vorstellen, zwischen Dinosaurierknochen und Datenblättern im Museum of Natural History zu arbeiten und so zu tun, als hätte ich keine tieferen Geheimnisse entdeckt. »Und vielleicht … könnte ich dir auch auf dem Fischerboot deines Vaters helfen.«
    Mir war bewusst, wie lächerlich mein Angebot klang. Doch der Gedanke an eine Trennung von Leo kam mir genauso unmöglich vor wie das, was ich unter Wasser gesehen hatte.
    »Miranda«, sagte er zärtlich, streckte die Hand aus, um mein Haar zu berühren, und seine Finger schlossen sich um meine sandverkrusteten Locken. »Du weißt, dass das nicht funktionieren würde. Du musst nach Hause fahren.«
    »Ich weiß«, erwiderte ich, während mir Tränen in die Augen traten. »Ein Mädchen kann wenigstens träumen, denke ich.« Wenngleich ich nie eine Träumerin gewesen war.
    Leos Augen glänzten, und er schluckte ein paar Mal. »Ich möchte dir danken«, sagte er schließlich.
    »Mir?«, fragte ich und schüttelte den Kopf. »Wofür? Ich habe dich nicht gerettet.«
    »Weil du mir eine Chance gegeben hast«, sagte er, und der verschmitzte Ausdruck, den ich inzwischen so liebte, war wieder erkennbar. »Ich weiß, dass ich nicht immer aufrichtig zu dir gewesen bin.« Seine Wangen wurden leicht rot.
    Ich lächelte durch meine Tränen hindurch. »Schon okay.«
    Plötzlich fiel mir ein Zitat ein, das ich zu Beginn des Schuljahrs im Physikunterricht gehört hatte. »Es gibt nichts Schöneres als das Mysteriöse.«
    Leo zog eine Augenbraue hoch und zeichnete mit dem Daumen die Linie meiner Lippen nach. Ein Schauer durchfuhr mich. »Das stimmt«, erwiderte er. »Wer hat das gesagt?«
    »Na, wer schon?« Ich grinste. »Ein Wissenschaftler. Einstein.«
    Leomaris Macleod lehnte sich ganz dicht an mich, und wir küssten uns, sanft und süß. Dann umarmten wir uns. Ich atmete seinen frischen Duft ein, versuchte mir die Wärme seines Körpers und das Gefühl seiner fest an mich gedrückten Brust ins Gedächtnis zu brennen.
    Als wir uns trennten, gab ich ihm zum zweiten Mal seine Kapuzenjacke zurück. Ich konnte nicht glauben, dass ich ihn gehen ließ. Mit klopfendem Herzen sah ich zu, wie er zur Tür ging. Bevor er sie öffnete und in die Nacht hinaustrat, blickte er über seine Schulter und lächelte mich an. »Hey, Miranda?«
    Ich wartete darauf, dass er nun Shakespeare zitieren würde. Dass er mir gestand, ein Meermann zu sein. Dass er tatsächlich die Worte ›Auf Wiedersehen‹ aussprach.
    »Weißt du noch, am Strand, als wir über den glücklichen Ausgang gesprochen haben?«, fragte er.
    »Ja«, antwortete ich leise. Ich würde nichts vergessen, was Leo betraf.
    »Unserer wird es sein«, sagte er. »Bald.«
    Und dann war er verschwunden.
    Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen aus den Augen, spürte immer noch die Essenz von Leos Lippen auf meinem Mund, hörte seine Stimme in mein Ohr flüstern. Ich wollte so gern, dass er zurückkam. Aber alles tat mir weh und ich fühlte mich müde und wie durch den Wolf gedreht. Mit langsamen Bewegungen setzte ich mich auf die unterste Treppenstufe. Mom würde in einer Minute zurückkommen, doch bevor es soweit war, wollte ich ganz still dasitzen und an Leo denken. Ich stellte mir vor, wie er den Kieselweg hinunter und am Hafen vorbeilief, während die Sonne über dem Ozean hervorblinzelte. Und ich stellte ihn mir am Strand vor, wie er ins Wasser sprang und sich sein Körper anmutig durch die Strömung bewegte.
    Wie er nach Hause zurückkehrte.

KAPITEL 15
Wahrheiten
    N ach dem Bad und der Tasse heißen Tees, die Mom mir verordnet hatte, kroch ich ins Bett und fiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft auf Selkie schlief ich, ohne zu

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