Der Junge aus dem Meer - Roman
Kleid vom Abendessen und hielt ihr Handy in der einen und eine Taschenlampe in der anderen Hand. An ihrer Seite stand Mr. Illingworth, der in Jeans und einem zerknitterten Button-down-Hemd weniger gestriegelt als sonst aussah.
Leo und ich erstarrten.
»Was ist passiert?«, fragte Mom und blickte uns bestürzt an. »Ich … wollte gerade die Polizei rufen. Oder dich suchen. Ich hab zuerst Teddy angerufen. Wie … was … ich …«
Zum ersten Mal in meinem Leben – und vielleicht auch in ihrem – schien Mom keine Worte zu finden.
»Hat er dir wehgetan?«, fragte sie schließlich und stürzte auf mich zu.
Ich war so verwirrt, dass ich sie nur anstarren konnte. Bis mir klar wurde, dass sie Leo meinte. Ich schüttelte vehement den Kopf, zappelte aber zugleich in Leos Armen. Er verstand und ließ mich vorsichtig auf den Boden herunter.
Mom drehte sich zu Leo, ihre Augen glühten. »Wenn du auch nur eine Hand an meine Tochter gelegt hast, dann schwöre ich, ich werde …«
»Amelia.« Ich war überrascht, Mr. Illingworths Stimme zu hören. Er klang schroff. Und besorgt. »Lass sie es erklären.«
Ich warf T. J.s Vater einen dankbaren Blick zu und sahdann zu meiner Mutter. »Mom«, gelang es mir zu sagen. »Hör mir zu. Leo hat mir das Leben gerettet.«
Das Handy meiner Mutter löste sich aus ihrem Griff, knallte auf den Holzfußboden und landete auf dem Kompass. Mom betrachtete meine arg mitgenommene und klatschnasse Gestalt. Leo stand neben mir. Er war total angespannt, sagte aber kein Wort und bewegte sich nicht.
»Ich bin fast ertrunken«, fügte ich erklärend hinzu. Als ich diese Worte aussprach, überkam mich die plötzliche, beängstigende Wirklichkeit, doch noch immer verspürte ich keine Angst. Ich war mit Leo zusammen. Ich war die ganze Zeit mit ihm zusammen gewesen, unabhängig davon, ob seine Verwandlung nun echt oder nur eingebildet gewesen war.
Und er war bei mir gewesen.
»Was habt ihr denn gemacht?«, fragte Mom und fasste sich mit der Hand an den Kopf. »Ich bin erst spät von Delilah zurückgekommen, nach eins, und als ich deine offene Zimmertür gesehen habe, dachte ich, du wärst fortgelaufen und …«
»Ich bin schwimmen gegangen«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Ich bin los, um mich mit Leo am Strand zu treffen. Als ich ins Wasser gegangen bin, da …« Ich musste wieder an die Seeschlangen denken, an alles, was ich draußen am Strand geglaubt hatte.
Leo räusperte sich. »Sie wurde von einer Unterströmung erfasst«, sagte er und trat einen Schritt nach vorn.
Mr. Illingworth machte ebenfalls einen Schritt auf uns zu. »Die gibt’s in dieser Gegend ziemlich häufig, Amelia«, sagte er und bedachte Leo mit einem ›Ich-bin-auf-deiner-Seite‹-Nicken.
»Ich konnte Gott sei Dank hinausschwimmen und sie zum Ufer zurückbringen«, erklärte Leo und sah Momauf seine eindringliche und ernste Art an. »Es tut mir leid, Ma’am. Ich hoffe, Sie wissen, dass ich Ihrer Tochter nichts Böses will. Das Gegenteil ist der Fall.«
Mom sagte nichts. Ich konnte praktisch sehen, wie sie alles gegeneinander abwog und wie ihre übliche Neigung, anderen Menschen nicht zu trauen, von der eigentlich unmöglichen Tatsache überwogen wurde, Leo und mich vor sich stehen zu haben. Zusammen.
»Ich weiß, dass du ihr nichts Böses willst«, sagte sie schließlich resigniert zu Leo. »Ich weiß.«
Mr. Illingworth ging zu Leo und streckte seine Hand aus. »Du warst sehr mutig, junger Mann.«
Aus zusammengekniffenen Augen schaute ich Mr. Illingworth an, als würde ich ihn zum ersten Mal sehen. Vielleicht passte er in gewisser Weise doch ganz gut zu Mom. Zumindest bewahrte er in den Momenten Ruhe, wenn sie es nicht konnte.
Während Leo, der so überrascht wirkte, wie ich mich fühlte, Mr. Illingworths Hand schüttelte, sah ich, wie Moms Blick zu dem Kleid unter Leos Arm wanderte. Ihre Augen wurden groß, dann blickte sie mich an. »Ist das nicht«, setzte sie fragend an, »ein Kleid von Isadora? Wieso…?«
»Es passt«, erwiderte ich zur Erklärung. Ich war viel zu müde, um noch mehr zu sagen.
Mom nickte benommen und nahm das Kleid von Leo entgegen. Sie betrachtete den zerknüllten Stoff in ihrer Hand, dann sah sie Leo vielsagend an. »Ich danke dir«, sagte sie leise.
Irgendetwas, irgendeine innere Kraftreserve, hatte mich während unserer Unterhaltung aufrecht gehalten, doch nun spürte ich, dass meine Kräfte erleichtert nachließen. Mom bemerkte das und verkündete, dass sie Mr. Illingworth zurTür
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