Der Junge aus dem Meer - Roman
erste, die ich jemals bei ihr sah) und ich unsere Portionen auf Isadoras Porzellanschalen verteilte. Dann setzten wir uns einander gegenüber an den runden Küchentisch.
In freundschaftlichem Schweigen begannen wir zu essen; der dampfende Eintopf mit den verschiedenen Aromen und Bestandteilen schmeckte so himmlisch, wie er roch. Abgesehen von Grit fand ich langsam Gefallen an der Südstaatenküche. Als ich Mom ein Kompliment für das Gericht machte, grinste sie und sagte freundlich: »Ich hatte eine exzellente Küchenhilfe.«
»Hast du das immer gegessen, als du klein warst?«, fragte ich mit ein paar roten Kartoffeln im Mund. Der vom Essen aufsteigende Dampf erschien mir wie der Atem der Vergangenheit. In ihm konnte ich Nostalgie, Erinnerung und Geschichte erahnen – sowohl die meiner Mutter als die von Selkie Island.
Mom nickte, während sie an einem Maiskolben knabberte. »Die ganze Zeit. Isadora … Nun ja, ich bin nicht bekannt dafür, sie mit Lob zu überschütten, aber sie hat einen lausigen Low Country Boil gemacht.« Moms graue Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an, und ich stellte sie mir als junges Mädchen vor, wie sie hier mit Isadora am Tisch gesessen hatte und beide diesen Mansch aus Mais, Würstchen und Garnelen aßen. Mich überkam wieder derselbe Schauer wie am Tag zuvor, als ich die Briefe in Isadoras schwarzem Koffer gefunden hatte.
Ich räusperte mich und wischte meine Hände an der Serviette ab. Ich musste Mom einfach sagen, was ich in Isadoras Wandschrank gefunden hatte – wenn wir erstmal alles zusammenpackten, würde sie es so oder so entdecken.
»Mom?«, begann ich etwas nervös. »Wo wir gerade von Isadora sprechen …«
Mom seufzte und legte ihren angenagten Maiskolben beiseite. »Miranda, ich weiß, was du mich fragen möchtest.«
Mein Magen machte einen Satz. »Wirklich?« Wieder einmal musste ich an Wades Hellseher-Mom-Theorie denken.
Mom nickte und sah mich mit feierlicher Miene an. »Es wird auch höchste Zeit, dass ich dir erzähle, wieso deine Großmutter und ich uns entfremdet haben.«
Oh.
Vor Neugier brennend nickte ich.
Mom nahm einen Schluck Bier. »Es ist eine lange Geschichte«, warnte sie mich.
»Das ist in Ordnung«, erwiderte ich. Ich musste nirgendwohin, und Geschichten fingen an mir zu gefallen.
»Alles fing vor meinem achtzehnten Geburtstag an«, begann Mom. »Mein siebzehntes Lebensjahr war ziemlich turbulent. Mein Vater starb an einem Herzinfarkt, und Isadora hatte entschieden, dass wir nicht mehr nach Selkie Island zurückkehren sollten. Alle Energie verwandte sie darauf, meine Teilnahme am Debütantenball vorzubereiten. Und meine Hochzeit.«
»Du warst Debütantin?«, fragte ich Mom grinsend.
Mom verdrehte die Augen und ihre Wangen verfärbten sich leicht. »So weit bin ich nie gekommen, aber ja, so war der Plan. Wenn ein Mädchen in der Gesellschaft von Savannah – der guten Gesellschaft – siebzehn oder achtzehn wird, wird sie auf einem Ball oder einer Tanzveranstaltung in eben diese Gesellschaft eingeführt. Diese Tanzveranstaltungen sind sehr aufwendig, fast wie Hochzeiten. Vor langer Zeit hatte diese Tradition der Debütantinnen viel mit dem heiratsfähigen Alter eines Mädchens zu tun. Isadora hatte natürlichdafür gesorgt, dass ich doppeltes Pech hatte. Nach meinem achtzehnten Geburtstag im April sollten Theodore Illingworth und ich im folgenden Sommer heiraten. Ein Studium war für mich nicht vorgesehen, und Teddy und ich sollten in das Kutscherhaus auf dem Besitz der Illingworths in Savannah ziehen.«
»Wie bist du Mr. Illingworth überhaupt begegnet?«, fragte ich in dem Bedürfnis, die weißen Flecken auf der Landkarte auszumalen. Ich musste daran denken, wie er letzte Nacht in der Vorhalle gestanden hatte und wie anders er mir in diesem Augenblick vorgekommen war. »Wie lange wart ihr zusammen?«
Mom zuckte mit den Achseln und fummelte am Etikett ihrer Bierflasche herum. »Wir wuchsen in derselben Gegend in Savannah auf, in Ardsley Park, und verbrachten unsere Sommer hier auf Selkie. Wir waren beide die Jüngsten in der Familie. Was unsere Mütter betraf, so gingen sie ganz selbstverständlich davon aus, dass wir zusammenkommen würden.« Für einen Moment war Mom still und betrachtete ihre Bierflasche. Dann sah sie mich wieder an. »Aber ich habe ihn nicht geliebt«, sagte sie sanft.
Und jetzt?, wollte ich fragen. Ich behielt die Frage jedoch für mich, da ich wusste, dass Mom noch mehr zu sagen hatte.
»Versteh mich nicht
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