Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
sich nicht gegenseitig schubsten oder losprusteten. Seine Stimme kippte fast, als er immerwieder versuchte, für Ruhe zu sorgen. Nach zehn Minuten gestikulierte er wie ein waschechter Sizilianer.
Irgendwann kam Cate zurück und setzte sich zu uns. Zuerst beruhigten sich die Kids, aber nach kurzer Zeit ging der Radau wieder los.
Ich wischte mir das Gesicht mit dem feuchten Halstuch ab und versuchte, eine Minute die Augen zu schließen.
Doch auch mir fehlte die Geduld. Immer wieder musste ich nachsehen, ob nicht endlich die Zivilbeamten durchs Tor kamen.
Dann sah ich wieder zu dem jungen Beamten hoch. Sein kurzes Haar war schweißnass, und ich machte mir Sorgen, dass er einen Sonnenstich bekam und uns auf dem braunen Stoppelfeld umkippte oder, schlimmer noch, mit dem Kopf auf die stumpfe Kante eines Grabsteins schlug.
Ich beugte mich zu Cate. »Er sieht nicht gut aus«, flüsterte ich ihr zu.
Cate stand auf und legte ihm sanft die Hand auf den Arm.
»Wie wär’s, wenn wir alle in die Kapelle gehen?«, schlug sie vor. »Dort ist es kühler, und es gibt kaltes Wasser.«
Dankbar erklärte sich der Polizist einverstanden, und gemeinsam lotsten sie die Teenager zu dem alten Gemäuer.
Als ich ihnen folgte, sah ich, wie eine dunkle Limousine am Friedhofstor vorfuhr, ein chromfreier Crown Vic mit einer stattlichen Antenne auf der Motorhaube.
Im kühlen Inneren der Kapelle beruhigten sich die Kids schnell. Vielleicht war es das gedämpfte Licht oder nur die Tatsache, dass wir alle harte Gartenarbeit hinter uns hatten und jetzt einen nachmittäglichen Blutzuckerabsturz erlitten, der durch die Post-Adrenalinrausch-Starre noch verstärkt wurde.
Die Mädchen kramten in ihren Schulrucksäcken, die hinten an der Wand standen, und begannen, Hausaufgabenzu machen. Drei der Jungs falteten Papierflugzeuge und ließen sie unter dem Giebel der Kapelle fliegen, wobei sie Wetten abschlossen, welches sich am längsten der Schwerkraft widersetzte.
Die Sonne stand jetzt tiefer am Himmel und schickte eine breite Lichtsäule durch das Westportal, in der die Wirbelschleppen der Papierflieger im tanzenden Staub sichtbar wurden.
Die Geräusche von draußen klangen weit entfernt: Das Rattern der Züge drang gedämpft durch die blassgoldenen Mauern der Kirche, das Murmeln und Zischen der Funkgeräte hörte sich an wie eine außerirdische Sprache.
Hohe Buntglasfenster zeigten nach Norden und Süden, und das komplizierte Muster ihrer kobaltblauen, scharlachroten und buttergelben Scheiben hatte Lücken, durch die das Maßwerk der Bleifassungen zu sehen war.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Cate schließlich. »Ich habe irgendwo zwei Packungen Schokoladenkekse, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand unter diesen Umständen was essen kann.«
Ich trank noch einen Schluck Wasser. »Vielleicht haben die Kids Hunger?«
Cate stand auf. »Ich stelle sie auf die Kühltasche.«
Fergus, unser junger Polizist, fragte als Erster, ob er sich ein paar nehmen dürfe. Die Kids taten es ihm nach.
Ansonsten konnten Cate und ich nichts tun als warten. Wir saßen vielleicht zehn Minuten schweigend da, doch ich spürte, dass sie nervös wurde. Mein Schock legte sich langsam, bei ihr setzte er gerade erst ein.
Ich beschloss zu reden, damit sie nicht auf dumme Gedanken kam.
»Wer hat die Kapelle gebaut?«, fragte ich.
»Unser Urururirgendwas Nicholas hat sie 1857 in Auftrag gegeben, in Erinnerung an seine drei Töchter. Er nannte sie ›Chapel of the Sisters‹.«
Ich sah zu der verwitterten Mahagonikanzel hinauf, deren staubige Front von überlappenden Bögen verziert wurde.
»Wenn man sich vorstellt, was dieser Ort sein könnte«, sagte Cate, »statt einer Wildnis, die so gottverlassen und verwahrlost ist, dass jemand hier einfach ein Kind verscharren kann.«
»Brechen hier noch andere ein außer Obdachlose?«
»Es wurden ein paar Statuen umgeworfen und kaputt gemacht. Und die Kapelle wurde von ein paar Junkies als Fixertreff benutzt, bevor ich richtige Schlösser eingesetzt habe. Ich hatte eine Mordsangst, irgendwann hier reinzulaufen und einen zu finden, der sich eine Überdosis gesetzt hat.«
»Hat sich je einer an den Gräbern selbst zu schaffen gemacht? Gebuddelt oder so was?«
Cate schüttelte den Kopf. »Vielleicht konnten sich die Eltern des Kindes die Beerdigung nicht leisten?«
»Möglich«, sagte ich, doch ich glaubte keine Sekunde daran.
»Aber die Eltern hätten auf jeden Fall versucht, ihr Kind zu begraben«,
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