Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
Ich kann mich nicht halten vor Lachen.«
Ein wenig außer Atem stöckelte sie zu uns herüber. »Ich komme direkt vom Gericht, und für meine Klienten will ich hübsch aussehen. Die haben es schwer genug.«
Ein ernüchternder Gedanke – die meisten ihrer Klienten waren tot.
Skwarecki stellte uns vor: »Das ist Cate Ludlam, sie kümmert sich um die Erhaltung des Friedhofs.«
Louise Bost schüttelte Cates Hand.
»Und Madeline Dare«, fuhr Skwarecki fort, »die die Leiche gefunden hat.«
»Nett, Sie kennenzulernen, Ms Bost«, sagte ich, als sie nach meiner Hand griff.
»Louise «, antwortete sie. »Lassen wir die Formalitäten. Ich nehme an, es war heute kein leichter Tag für Sie beide, und wenn der Gerichtsmediziner endlich seinen Senf abgibt , verbringen wir wahrscheinlich noch viel Zeit miteinander.«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, kam der Mann der Stunde persönlich durchs Gestrüpp. Er richtete sich auf und zog schnalzend die dünnen Gummihandschuhe aus.
Von dem Grinsen auf seinem Gesicht zu schließen, hatte er einigen Senf auf Lager.
9
Der Gerichtsmediziner nahm Skwarecki und Louise Bost beiseite, um ihnen zu berichten, was er auf Anhieb sagen konnte. Sie stellten sich in den Schatten unter dem Portal.
Jetzt konnten wir ihre Gesichter sehen, und ihre Unterhaltung schien finster zu sein.
»So sehen keine frohen Menschen aus«, stellte Cate fest.
»Ich frage mich, was er rausgefunden hat«, sagte ich.
»Ich glaube, ich will es gar nicht wissen.«
Dann verabschiedete sich der Gerichtsmediziner und stieg wieder in seinen Transporter.
Die Staatsanwältin kümmerte sich nicht mehr um ihre Schuhe, als sie mit Skwarecki zu uns zurückkam.
»Meine Damen«, sagte sie, »wir würden Sie jetzt gerne mit aufs Revier nehmen, wenn es möglich ist.«
»Sie bekommen keine Klimaanlage?«, fragte ich Skwarecki, als wir auf den Boulevard fuhren und ich das Fenster herunterkurbelte.
Louise Bost und Cate folgten uns im Wagen der Staatsanwältin.
Skwarecki schnaubte. »Wir können froh sein, wenn Räder dran sind.«
Sie trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad, jetzt schon ungeduldig, dass wir Kolonne fuhren.
»Dafür haben Sie einen dicken Motor unter der Haube, oder?«, fragte ich.
Skwarecki grinste. »Dick genug.«
»Wenn Sie’s oben schön rot blinken lassen, können Sie in der Karre sicher ganz schön Gas geben.«
»Will ich meinen.«
Sie vergewisserte sich im Rückspiegel, dass wir Cate und Louise Bost noch nicht abgehängt hatten.
»Oh Mann«, knurrte sie ungeduldig, »Straße frei, die Entchen kommen.«
Wir fuhren auf den Parkplatz des 103. Reviers, und Skwarecki führte uns nach oben in ein Labyrinth von glänzenden amtsgrünen Fluren. Im Gänsemarsch wanderten wir hinter ihr her, um immer neue Ecken an immer neuen Türen vorbei.
An den meisten Türen stand der Dezernatsname – BETRUG, SEXUALDELIKTE oder RAUB – auf Packpapier, das von hinten an der Scheibe des kleinen Fensters klebte. Dahinter konnte man nichts erkennen.
Die Staatsanwältin schien sich genauso gut auszukennen wie Skwarecki, doch ich hatte schnell die Orientierung verloren, als ich in quietschenden Turnschuhen auf dem hochglanzpolierten Linoleum hinterhertrottete.
Vor einer Tür mit der Bezeichnung MORD kamen wir schlitternd zum Stehen.
Dann führte uns Skwarecki in ein helles, lautes mit Schreibtischen vollgestelltes Großraumbüro.
Ich sah wieder auf die Uhr: Es war halb sechs.
»Müssen Sie irgendwohin?«, fragte Skwarecki, als sie zwei Stühle für Cate und mich heranzog.
»Ich bin um acht verabredet«, sagte ich, »aber ich kann absagen. Kein Problem.«
»Bis dahin sollten wir es geschafft haben«, antwortete sie.
Louise Bost warf einen Blick auf ihre schmale Uhr, ohne sich zu setzen. »Ich muss mal telefonieren. Kann ich jemandem ein Glas Wasser bringen?«
Cate fragte nach den Toiletten, und die beiden gingen zusammen los.
»Sah aus, als hätte der Gerichtsmediziner keine guten Nachrichten gehabt?«, sagte ich zu Skwarecki.
»Stimmt.«
»Konnte er feststellen, wie alt das Kind war?«
»Ungefähr drei.«
»Drei« , sagte ich. »Oh Gott. Und Sie gehen davon aus, dass es Mord war?«
»Wenn nur noch das Skelett übrig ist, kann es schwer sein, die Todesursache zu finden, aber in diesem Fall ist sich der Gerichtsmediziner ziemlich sicher.«
»Ja«, sagte ich. »Ich habe den Brustkorb gesehen …«
Skwarecki nickte. »Nach der Obduktion wissen wir mehr, aber es waren auch jede Menge schlecht verheilte
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