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Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Read
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Insel.
    In der U-Bahn nach Queens dachte ich über Deans Sorge um Astrid nach und versuchte, mich zu erinnern, wie sie gewesen war, als ich sie kennengelernt hatte.
    Da war ein Sonntagabend, der mir im Gedächtnis geblieben war, als ich im Raucherzimmer von Ford saß, einem der Mädchenwohnheime im Internat, und von Joan Appelbaum Marlboro Lights schnorrte.
    Immer wenn ich genug Geld hatte, mir selbst welche zu kaufen, ging ich und besorgte mir eine besonders abstoßende Marke wie Philip Morris Commanders oder so was. Sie schmeckten wie verbrannte, in Guinness eingelegte Turnschuhe, aber das hieß, dass mich nur die wirklich Verzweifelten anschnorrten und jede Schachtel doppelt so lange vorhielt.
    Die Tatsache, dass mir trotz meines allzu leicht durchschaubaren Manövers nie eine Schulkameradin eine Zigarette missgönnte, war Zeichen jener Großzügigkeit, die mir in neun Jahren an der öffentlichen Schule nie widerfahren war. Hier zählte Sportsgeist: Demut stach Reichtum aus, Witz ohne Manieren war nichts wert, und unsere Loyalität untereinander war absolut und leidenschaftlich – komme, was da wolle.
    Ford war eins der »neuen« Wohnheime, gehörte zu einemseltsamen Trio von schlanken, mit Zedernschindeln gedeckten Backsteinblöcken, die aussahen wie Skiunterkünfte aus den siebziger Jahren. Sie standen etwas unterhalb von meiner eigenen Behausung, dem majestätischen Cushing House mit seinen stuckverbrämten Fin-de-Siècle-Mauern, das bereits meine Mutter beherbergt hatte.
    Um fünf vor zehn waren die grünen Vinylsofas im Gemeinschaftsraum noch voll besetzt von Cherry Coke trinkenden Nikotinjunkies im üblichen Winterfreizeitlook weiblicher Internatszöglinge: Duck-Boots von L. L. Bean und lange Unterhosen unter hochgeschlossenen karierten Flanellnachthemden von Lanz.
    Ich dazwischen – strumpflos in orangen Espadrilles – in einer mit Isolierband geklebten Daunenjacke und der Madraskarohose von jemandes älterem Bruder (die billig an mich ging, weil die Vorbesitzerin Geld für Gras brauchte) und einem ätzend unpassenden Alohahemd – Schnäppchen von der Heilsarmee in Salinas, wo ich die Weihnachtsferien verbracht hatte.
    »Hast du schon für Hindleys bescheuerten Lyrik-Marathon gelernt?«, fragte Joan, als sie mir die dritte Zigarette abgab.
    Ich beugte mich über das Feuerzeug. »Ich warte auf Astrid. Das Miststück ist noch nicht aus der Stadt zurück.«
    »Dann bleibt sie wohl die ganze Nacht.« Joan blinzelte zur rauchverhangenen Wanduhr.
    »Wie kann Hindley von uns verlangen, dass wir an einem Wochenende neunundsechzig Gedichte auswendig lernen?«
    »Oder besser«, sagte Joan, »wie kannst du bis zum letzten Abend warten, bevor du das Buch aufschlägst?«
    »Weil ich bescheuert bin?«
    Sie machte einen Rauchkringel. »Du kriegst sowieso ’ne eins. Wie immer.«
    »Was nicht heißt, dass die kommende Nacht nicht absolut beschissen wird … Ich würde meine rechte Arschbacke für ein bisschen Speed geben.«
    »Die Zehntklässlerin oben in Strong hat eine ganze Flasche von dem Diätscheiß ihrer Mutter.«
    »Zu pleite«, seufzte ich. »Meine Lebensgeschichte.«
    »Du armes kleines Ding«, konterte Joan ungerührt, während sie die Asche in eine fuchsiapinke Getränkedose schnippte, die jemand hatte stehen lassen.
    »Wo zum Teufel bleibt Astrid?« Ich sah wieder zur Uhr.
    »Was kümmert’s dich? Fang ohne sie an.«
    »Das wäre wahrscheinlich der schlaue Weg, aber dazu müsste ich wissen, wo mein beschissenes Buch ist.«
    »Du bist echt bescheuert.«
    »Oh ja«, sagte ich, »wobei der Inhalt deiner Hypothese – als stichhaltige Summierung meines angeborenen Charakters – längst ein Allgemeinplatz ist.«
    »Schlaumeier sind nicht beliebt.«
    » Au contraire , meine stets so gut auf den Unterricht vorbereitete Freundin«, konterte ich. »Alle lieben Schlaumeier; vor allem, wenn wir unseren bescheuerten Lyriktest versemmeln, damit sie mit dem Finger wackeln und sagen können: ›Das hast du davon.‹«
    Joan neigte den Kopf, um hinter mir durchs Fenster zu spähen. »Ich wette, das ist sie.«
    »Taxi?«
    »Größer«, sagte sie. »Stretchlimo.«
    Jetzt blies auch ich einen Rauchkringel. » Eindeutig Astrid.«
    Joan steckte den Finger durch eins meiner gerauchten O, das vorbeiwaberte. »Glückspilz. Wie zum Teufel kann sie sich eine Stretchlimo leisten?«
    »Scharenweise verliebte Börsenmakler«, erklärte ich, »die sie verzweifelt anflehen, noch auf einen Wodka Tonic bei Doubles zu bleiben, oder im

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