Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Read
Vom Netzwerk:
ist scheißkalt hier drin. Außerdem hast du schon eine Jacke an.«
    »Ja, aber wir tauschen.« Sie klemmte sich die Dunhill in den Mundwinkel, schüttelte den Zobel ihrer Mutter ab und hielt ihn mir hin.
    »Du kannst mich mal. Ich mag meine Jacke.«
    »Tust du nicht«, entgegnete sie. »Deine Jacke ist grauenhaft und geklebt ist sie auch.«
    »Ich finde es schön, dass sie geklebt ist.«
    »Du arrogantes Miststück.«
    »Haargenau«, sagte ich.
    Sie zog noch einmal an der Zigarette und legte sich den Mantel wieder um. »Weißt du, wie viele Leute gerne mit mir tauschen würden?«
    Ich zuckte die Schultern.
    »Alle«, sagte sie. »Alle außer dir, Madissima. Also, vergiss die Zweifel. Das Einzige, was du tun musst, ist: Erheb dich, geh hin und erobere .«
    »Tennyson. ›Artus’ Scheiden‹.«
    »Wir sind die besten Köpfe unserer verdammten Generation«, sagte Astrid. »Und ich lasse nicht zu, dass du das je vergisst.«
    Sie lehnte sich aus dem Fenster und blies eine Wolke in die frostige Luft, bevor sie in einer Geste höchster Anmut die in Zobel gehüllten Arme ausbreitete, um einen Segen hinauszuschicken über die, die in der schwindenden Dunkelheit noch schliefen.
    »Hört dies«, flüsterte sie in die Nacht, »von Astrid und Madeline: Wir. Sind. Die. Größten .«
    Sie rezitierte Eliots Segen aus der zweiten Strophe und rief – leise – über den Campus hinaus:
    » Gute Nacht, meine Damen, gute Nacht, süße Damen, gute Nacht, gute Nacht. «
    Dann ging die Sonne auf, und vier Stunden später bekamen wir in Hindleys bescheuertem Lyriktest beide eine glatte Eins: jede mit einer Trefferquote von achtundneunzig Prozent.
    Heute fiel es mir schwer, mich daran zu erinnern, wie wir waren – Astrid und ich als Teenager –, doch noch schwerer fiel es mir, mich zu erinnern, was ihrer Überzeugung nach aus uns hätte werden sollen.

14
    Diesmal war ich schneller auf dem Weg vom Bahnhof Jamaica zum Friedhof. Nicht nur, weil ich mich besser auskannte, es war auch nicht mehr ganz so heiß, und in der Luft lag eine Frische, die den Herbst ankündigte. Noch brauchte man keinen Pullover, doch es herrschte genau die richtige Temperatur für einen strammen Marsch, ohne von der drückenden Schwüle des Sommers gebremst zu werden.
    Als ich die Sackgasse erreichte, war Cate gerade dabei, den Kofferraum zu entladen.
    Sie sah auf und lächelte mich an. »Du bist die Erste.«
    Doch schon Augenblicke später waren auch die anderen Freiwilligen da – ein halbes Dutzend gemütlich wirkender Rentner in festem Schuhwerk und mit Sonnenhüten. Sie sahen aus, als kämen sie gerade von einer Seniorenfloßfahrt auf dem Colorado River: tatkräftig und auf alles gefasst.
    Cate erklärte der Gruppe, worum es ging, und redete nicht um den heißen Brei herum.
    »Bis jetzt wissen wir nur, dass das Kind etwa drei Jahre alt war«, sagte sie. »Wir suchen also nach allem, das der Polizei irgendwie helfen könnte, das Opfer zu identifizieren … Kleidungsstücke vor allem. Lasst uns diese Woche paarweise arbeiten und besonders langsam vorgehen.«
    Die Quäker nickten.
    »Wenn Sie irgendetwas finden, das nicht zur Vegetation gehört«, fuhr sie fort, »selbst wenn es wie ganz normaler Abfall aussieht, bringen Sie es bitte raus auf den Weg und deponieren es hier am Geländer.« Sie zeigte auf den Eckstein aus Granit, der eine der Familiengrabstätten begrenzte.
    »Hatte Skwarecki nicht gesagt, wenn wir was finden, sollen wir es nicht anfassen?«, fragte ich Cate, als die Quäker paarweise abgezogen waren.
    »Die Polizei hat sich gründlich am Fundort umgesehen«, erklärte Cate, »und Skwarecki meint, falls wir wirklich etwas finden, wurde es inzwischen wahrscheinlich von Tieren bewegt. Sie kommt nachher vorbei und sieht sich an, was wir zusammentragen.«
    Ich band mir ein frisch gewaschenes Tuch um den Kopf.
    »Hübsch«, sagte sie, als sie mir eine Machete, Handschuhe und einen Müllsack reichte. »Jetzt siehst du aus wie ein Pirat.«
    »Mist, ich wollte Jimmy Hendrix sein.«
    Cate lachte, nahm eine Heckenschere, und zusammen schlugen wir uns in die Büsche.
    Eineinhalb Stunden später hatten wir zehn Mülltüten gefüllt und am Geländer am Wegesrand eine knapp zwei Meter lange einspurige Parade wertlos wirkender Müllobjekte aufgestellt.
    Cate stopfte eine letzte Tüte voll, dann zwirbelte sie sie oben zu und angelte eine gezahnte Plastikklammer aus der Tasche ihrer Shorts. Ich hielt die Tüte zu, damit Cate die Hände zum Schließen frei

Weitere Kostenlose Bücher