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Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Read
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Yale Club.«
    Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, als Astrid selbst durch die Tür ins Raucherzimmer getänzelt kam: gertenschlank in schmalen Khakis und einem Beautrophy-Hemd, dessen weiße Schöße bei jeder Drehung flatterten.
    Hinter sich schleifte sie etwas, das wie ein Zobel aussah, über den aschestinkenden Teppich, und sie war so high wie ein Drachen im Herbst: die Ray-Ban auf der Nase, Walkman so laut, dass alle im Raum mithörten, wie David Byrnes blechernes » This ain’t no party / This ain’t no disco« aus den Kopfhörern blutete.
    »Darlings«, rief sie und zog ein rotes Päckchen Dunhills heraus, »wer hat Feuer?«
    » Ich mein’, ich weiß, wes Wald das sei …«, las Astrid aus der schmuddeligen orangefarbenen Lyrik-Anthologie vor.
    »›Halten am Wald im Abendschnee‹«, sagte ich.
    »Von?«
    »Robert Frost natürlich. Wie alles, was mit Bäumen oder Winter zu tun hat.«
    Ich saß im Schneidersitz auf dem Boden in ihrem Zimmer und hielt eine Dunhill aus dem Fenster. Sie lag quer über dem Bett, und inzwischen trug sie den verdammten Pelz über ihrem eisblauen Pyjama.
    Eine frostige Windbö blähte die indisch bedruckte Tagesdecke, die über mir an die Wand genagelt war, und die Nadel des Plattenspielers senkte sich wieder auf das Beatles-Album, das wir schon seit zwei Stunden hörten.
    » Heil dir, Geist der Lieder … «, las sie.
    » Vogel bist du nicht. Keats.«
    »Shelley.« Astrid ließ sich zurückfallen, sodass die Matratze bebte, dann streckte sie die langen Beine an der Wand hoch und kreuzte die Beine an den Knöcheln mitten auf Jim Morrisons Poster-Stirn. »Titel?«
    »›Ode auf irgendeinen bescheuerten Scheißvogel, dessen Namen ich nicht mehr weiß, weil es vier Uhr morgens ist‹.«
    »Fast. ›Ode an den breit gefeierten Niedergang des jambischen Arschlochs‹«, sagte sie.
    »Ach so. Übrigens, scheißschicker Mantel.«
    »Mamas.«
    »Vermisst sie ihn nicht?«
    Astrid zuckte die Schultern. »Sie ist drei Monate weg. Und du bist wieder echt scheiße angezogen.«
    »Ironie«, sagte ich. »Außerdem habe ich kein Kleingeld für die Waschmaschine mehr.«
    »Madeline, du musst dir wenigstens Mühe geben . Dein ganzer hochgezüchteter Knochenbau geht vor die Hunde.«
    »Thomas Gray«, sagte ich. »›Elegie, geschrieben auf einem Dorfkirchhof‹. Wen soll ich sonntagabends hier beeindrucken, die Sicherheitsleute?«
    Astrid klappte das Buch zu, dann ließ sie den Kopf vom Bett rollen und sah mich von unten an. »Sollen wir uns noch eine Zeile reinziehen?«
    Sie sprach von Koks, nicht von Poesie: das Abschiedsgeschenk ihres jüngsten Galans, als er sie in die Limousine setzte – alles in allem zwei Gramm, von denen wir bereits einen Teil geschnupft hatten.
    Ich schnippte die Zigarette aus dem Fenster und sah zu, wie die orange Glut in hohem Bogen durch die Nacht flog, bevor sie drei Stockwerke unter uns im Schnee verlosch. »Das wäre reizend, falls du es erübrigen kannst.«
    »Dort, wo das hier herkommt, gibt’s noch jede Menge.« Sie griff nach Spiegel und Rasierklinge. »Wir können gerne alles nehmen.«
    »Ich weiß deine Großzügigkeit zu schätzen.«
    Ich versprühte eine Dosis Ozium im Raum, bevor ich das Fenster schloss. Das Spray, das damit warb, die Luft zu erfrischen , funktionierte tatsächlich, allerdings indem es den Geruchssinn aller Anwesenden für mehrere Minuten lahmlegte – wichtige Camouflage im Krieg gegen dieWohnheimeltern, seit Zigaretten auf den Zimmern verboten waren.
    Man fand die blau-weiße Spraydose auf der Kommode jeder feierlustigen Schülerin auf dem Campus, neben dem unerlässlichen Fläschchen Visine-Augentropfen.
    Astrid richtete zwei dicke Lines auf dem kleinen Spiegel an, den sie mir mit einem zusammengerollten Zwanzig-Dollar-Schein reichte.
    Ich schnupfte sie, dann legte ich den Spiegel auf den Boden, hielt mir nacheinander die Nasenlöcher zu und schniefte scharf.
    »Danke.« Mit der angeleckten Fingerspitze tupfte ich die letzten Körnchen vom Spiegel, um sie mir ins Zahnfleisch zu reiben.
    »Die mustergültige Maddie Dare knallt sich den Kopf weg«, sagte Astrid grinsend. »Wer hätte das gedacht?«
    »Fuck you.«
    Meistens hielt ich mich zurück. Auf meinem Schreibtisch stand kein Ozium, und in meinem Schrank waren nichts als schmutzige Klamotten. Ich hing viel zu sehr an meinem Stipendium, um es aufs Spiel zu setzen, weil ich zutiefst dankbar war, weit weg von den täglichen arschigen Sticheleien meines damaligen Stiefvaters Pierce zu

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