Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Read
Vom Netzwerk:
schwarze Lederstuhl des Richters mit der hohen Lehne. Es war still bis auf gelegentliches Blätterrascheln oder unterdrückten Februarhusten. Der Gerichtsdiener und die Protokollschreiberin saßen unter der Richterbank, die Köpfe über irgendwelche Unterlagen gebeugt.
    Dann kamen die Geschworenen einzeln herein und setzten sich in zwei Reihen zu je sechs Plätzen. Der Gerichtsdiener kündigte den Richter an.
    Knie und Stühle knarrten im ganzen Saal, als wir aufstanden, und einen Augenblick dachte ich, wir würden die Nationalhymne anstimmen oder wenigstens der Flagge salutieren, die Hand auf dem Herzen zum Treuegelöbnis.
    Der Richter rückte sich die Robe zurecht und setzte sich. Wir anderen taten es ihm nach, hier und dort mit einem letzten Schnäuzen oder Räuspern.
    Jemand in der Nähe knisterte mit Zellophan, und ich roch ein Mentholbonbon.
    Diesmal eröffnete der Richter die Sitzung mit einem Hammerschlag, und endlich rief Louise Bost Skwarecki in den Zeugenstand.
    Während sie eingeschworen wurde, sah ich mir die Zuschauer an, aber an den Hinterköpfen ließ sich nicht viel ablesen.
    Die Staatsanwältin stand auf. »Guten Tag, Detective Skwarecki.«
    »Guten Tag.«
    Louise Bost ging näher an den Zeugenstand. »Ich möchte noch einmal zu dem Septembernachmittag zurückkehren, als Sie zum ersten Mal zum Prospect Cemetery gerufen wurden.«
    »Am neunzehnten September«, ergänzte Skwarecki.
    »Richtig, danke. Können Sie uns sagen, was Sie vorfanden, als Sie dort ankamen, Detective?«
    Während sie die Fakten durchgingen, ließ ich die Gedanken schweifen. Langsam wurde es stickig im Saal, als hätte jemand die Heizung aufgedreht. Ich zog die Jacke aus und legte sie mir auf den Schoß.
    Ich hatte Louise Bosts Assistenten ganz vergessen, bis er nach etwa zwanzig Minuten aufstand, um einen dreibeinigen Flipchartständer aufzustellen. Dann holte er einen Stapel Plakate vom Tisch der Anklage, den er in den Ständer klemmte, sodass die Geschworenen das erste Bild sehen konnten.
    Von unserem Platz aus konnten auch wir einigermaßen gut sehen: ein vergrößertes Schwarz-Weiß-Foto des Friedhofs, vom Eingang aus aufgenommen.
    »Detective Skwarecki«, sagte Louise Bost, »sah der Friedhof so aus, als sie am Nachmittag des Neunzehnten dort ankamen?«
    »Ja. Hier links hinter dem Weg sieht man das Flatterband vor dem Dickicht.«
    Der Assistent führte das zweite Foto vor, eine Ansicht vom Weg auf das Gebüsch.
    »Und das ist die Stelle, an der Ms Dare an dem Tag gearbeitet hatte?«, fragte Louise Bost.
    »Ja.«
    »Vorhin hat sie ausgesagt, dass das Gestrüpp an dieser Stelle besonders dicht war. Würden Sie dem zustimmen?«
    »Ja«, sagte Skwarecki.
    Louise Bost nickte dem jungen Mann zu, der das nächste Plakat einspannte: eine Wand aus Laubwerk und Schlingpflanzen mit einer Art flachem schattigem Tunnel über dem Boden.
    »Können Sie beschreiben, was wir hier sehen, Detective?«
    »Das ist die Stelle, wo Ms Dare mit dem Roden aufhörte. Man sieht die weißen Enden der Äste, die sie noch abgezwickt hat.«
    Bost trat an die Staffelei heran. »Hier und hier zum Beispiel?«
    »Genau.«
    »Und was ist das hier?«, fragte Louise Bost und zeigte auf den schattigen Hohlraum am Boden.
    »Das ist die Öffnung, in die sie kroch, nachdem sie den Grabstein entdeckt hatte.«
    Das vierte Foto war eine Nahaufnahme des Tunnels mit einem Zollstock: Seine Höhe maß fünfundvierzig Zentimeter. Im Schatten dahinter konnte man nichts erkennen.
    »Können Sie sagen, wie dieser kleine Tunnel entstanden ist?«, fragte Louise Bost.
    »Wahrscheinlich durch Tiere.«
    Louise Bost gab dem Assistenten ein Zeichen. »Und im Tunnel sahen Sie das hier?«
    Das nächste Foto war offenbar mit einem Blitz aufgenommen worden. Ich hörte, wie einer der Geschworenen nach Luft schnappte. Man sah deutlich Teddys winzigen Schädel und auch den eingedrückten Brustkorb.
    »Ja«, sagte Skwarecki, als Louise Bosts Assistent noch zwei Fotos des Skeletts aus verschiedenen Winkeln vorführte.»Wir wollten sichergehen, dass wir den Fundort genau so festhielten, wie Ms Dare ihn vorgefunden hat, bevor wir darangingen, das Gestrüpp zu beseitigen.«
    Das nächste Bild zeigte den Schädel in Großaufnahme: Teddy Underhills große Augenhöhlen und Milchzähne.
    Der Blitz fiel auch auf den Grabstein hinter ihm, sodass man einen Teil der filigranen Inschrift lesen konnte: »Geliebter Sohn, dahingeschieden …«
    Ich hoffte, Mrs Underhill bekam das Foto nicht zu Gesicht.

Weitere Kostenlose Bücher