Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
Das mit dem Engel war gelogen.
Als ich den Blick wieder auf die Geschworenen richtete, sah ich gerade noch, wie eine Frau sich bekreuzigte. Die Männer wirkten wütend, die Frauen den Tränen nah.
Gut.
»Können wir das vorhergehende Bild noch einmal sehen?«, bat Louise Bost.
Ihr Assistent wechselte die Plakate aus, und sie bedankte sich, bevor sie näher an das Foto herantrat.
»Detective Skwarecki«, begann Louise Bost und zeigte auf die eingedrückten Rippen, »konnte die Verletzung, die wir hier auf dem Foto sehen, Ihrer Meinung nach entstanden sein, nachdem die Leiche des Kindes hier im Dickicht abgelegt worden war?«
»Nein, unmöglich«, sagte Skwarecki.
»Warum?«
»Für eine solche Verletzung wäre ein Kraftaufwand nötig«, erklärte sie, »der sich auf dem engen Raum nicht aufbringen lässt. Der Gerichtsmediziner wird es Ihnen ausführlicher erklären, aber ich kann Ihnen anhand dieses Fotos versichern, dass niemand in diesem Tunnel dazu in der Lage gewesen wäre, selbst wenn er ein Werkzeug oder eine Waffe gehabt hätte.«
Louise Bost nickte. »Könnte es denn ein Tier gewesen sein oder hätte jemand mit dem Fuß auf die Leiche treten können, nachdem sie dort abgelegt worden war?«
»Nein, unmöglich. Aus denselben Gründen.«
»Danke, Detective.«
Ihr Assistent sammelte die Fotos ein und ging an den Tisch der Anklage zurück. Den Ständer ließ er stehen.
48
»Ich würde hier gerne einen Sprung machen, Detective«, sagte die Staatsanwältin, »und Sie dazu befragen, wie es kam, dass Sie die Leiche als die des kleinen Teddy Underhill identifizieren konnten.«
»Okay«, sagte Skwarecki.
Louise Bost wandte sich an die Geschworenen. »Wie Ms Ludlam uns gestern berichtet hat, war der Prospect Cemetery seit Mitte des sechzehnten Jahrhunderts eine Begräbnisstätte. Möglicherweise fragen sich manche von uns, was so ungewöhnlich daran ist, auf einem Friedhof menschliche Knochen zu finden, doch die Ermittlungsbeamten kamen sofort zu dem Schluss, dass es sich hier um einen verdächtigen Todesfall handelte, der nicht allzu lange zurücklag. Können Sie uns sagen, was Sie zu diesem Schluss geführt hat, Detective?«
»Zwei Dinge«, sagte Skwarecki. »Erstens war Ms Ludlam mit dem Zustand des gesamten Geländes vertraut. Sie wusste, dass keins der Gräber geöffnet worden war, bis auf gelegentlichen Vandalismus an den Gedenksteinen in den letzten Jahren. Der zweite Hinweis waren die Knochen selbst.«
»Können Sie uns sagen, was Sie aus Ihrer Untersuchung des Skeletts vor Ort an jenem ersten Tag gefolgert haben?«
»Dass das Opfer ein Kind war, war offensichtlich«, antwortete Skwarecki. »Aber ich sah auch sofort, dass der Tod irgendwann innerhalb der letzten sechs Monate eingetreten sein musste.«
»Wie das?«
»Den Elementen ausgesetzt, verändern sich als Erstes die Knochenenden. Zwar lässt sich anhand des Skeletts kein genauer Todestag bestimmen, aber wir können einen etwas gröberen Zeitrahmen festlegen. Auch die Farbe der Knochen ist aufschlussreich, denn sie bleichen mit der Zeit aus und werden immer weißer. Diese Knochen waren jedoch nicht weiß. Aufgrund meiner Beobachtungen wusste ich, dass das Kind nicht vor hundert Jahren gestorben war, und auch nicht vor zwei Jahren.«
»Und so kamen Sie zu der Einschätzung, dass der Tod des Jungen innerhalb der letzten sechs Monate eingetreten sein muss?«
»Ja«, sagte Skwarecki. »Und wie ich erwartet hatte, kam der Pathologe in seinem Bericht zum selben Schluss.«
»Es gab aber auch Dinge, die Sie allein am Skelett nicht erkennen konnten, oder?«
»Ja, eine ganze Reihe.«
»Und das geringe Alter des Jungen machte die Identifizierung sogar noch schwieriger, nicht wahr?«
»Wäre die Leiche früher gefunden worden, hätten wir natürlich mehr Anhaltspunkte gehabt – Blutgruppe, Haarfarbe, Gesichtszüge. Wäre der Junge älter gewesen, hätten wir seine Identität vermutlich mithilfe zahnärztlicher Unterlagen feststellen können.«
»Doch obwohl Sie über keine dieser Informationen verfügten, sind Sie sicher, dass es sich bei dem Skelett auf dem Friedhof um die sterblichen Überreste von Edward Underhill handelt?«
»Ja.«
»Können Sie uns sagen, warum?«
»Erstens hat keine der Informationen, die mir der Gerichtsmediziner nach seiner Untersuchung geben konnte, dagegen gesprochen.«
»Zum Beispiel?«
»Es handelte sich um ein Kind, das kaum älter als drei Jahre und afroamerikanischer Abstammung war.«
»Wussten Sie, dass
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