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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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konnte noch immer das Bild aus dem Life-Magazin vor mir sehen, mit der nach hinten gebogenen Krankenschwester. Früher oder später würde ich mich selbst verraten. Judenhaß kennt kein Geschlecht. Im Lager hatte es einen Mann gegeben, der von seiner arischen Geliebten hineingebracht worden war. Vielleicht gab es auch mehr als diesen einen, aber er war der einzige, den ich kannte.
     Daran dachte ich, als ich Susannah das erste Mal sah. Oder ich dachte es, weil ich sie schon vorher aus den Augenwinkeln gesehen hatte.
      Wie lange müssen wir die Bibel lesen, bis wir zu der Geschichte der badenden Susanne kommen?
      Und was bedeutet Sodom und Gomorrha?
      Anne, Peter, wollt ihr zwei endlich ernst sein!
     Das erste, was mir auffiel, waren ihre Haare. Es hat bei mir länger gedauert, bis ich mich an den Anblick von Frauen mit Haaren gewöhnte, als es bei Frauen ohne Haare gedauert hatte. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus, Doktor? Susannahs Haare waren dunkelblond und seidig. Sie trug sie damals lang, sie fielen über eines ihrer samtwimprigen Augen, wie auf den Bildern von Veronica Lake aus der Zeit vor dem Krieg. Ich hatte, wiederum im Life-Magazin, gelesen, daß der Filmstar sich in einer patriotischen Geste diesen seidenen Vorhang, in den jeder Mann die Hand schieben wollte, abgeschoren hatte. Seit Samson die Haare abgeschnitten worden waren, hatte dieser Akt keine derartig unheilvollen Konsequenzen mehr gehabt. Über Nacht war Veronica nicht mehr aktuell. Aber Susannah hatte Haare wie Veronica, bevor sie sie abgeschnitten hatte, und sie hatte eine kleine, süße Nase, eine Stupsnase, und gerade, weiße Zähne, die Dr. Pfeffer vor Begeisterung Tränen in die Augen getrieben hätten. Zähne vererben sich, wie schon gesagt, in der Familie. Sie lächelte auf einen Jungen hinunter, den ich in einer Gruppe Waisenkinder schon auf dem Schiff gesehen hatte, und in diesem Lächeln erkannte ich ihre liebevolle Familie, die sie seit ihrer frühesten Kindheit angelächelt hatte. Sie trug eine Erkennungsnadel über ihrer kleinen, spitzen linken Brust. Allerdings war ich nicht nah genug, um ihren Namen oder den der Organisation zu lesen, für die sie ehrenamtlich arbeitete. Später würden wir über diese Szene diskutieren. Nein, nicht diskutieren, wir würden einfach verschiedener Meinung sein.
     Sie mußte gespürt haben, daß ich sie beobachtete, denn sie sah auf. Mein Blick traf ihren. Ich sah, wie ihr die Farbe in die Wangen stieg.
      Wir wissen immer noch nicht, welches Geschlecht Mofft hat, gell?
      Doch, schon. Es ist ein Kater.
     In diesem Moment wurde es mir klar. Eine Geliebte würde es wissen. Eine Hure würde es wissen. Aber ein nettes Mädchen hätte keine Ahnung. Ich könnte meine Unterhose ausziehen und trotzdem mein Geheimnis bewahren.
     Ich nahm meinen Identitätsausweis aus der Hand des Zolloffiziers, steckte ihn in die Tasche meiner schweißnassen Hose und ging auf das blendende Viereck Sonnenlicht am Ende der Halle zu. Als ich in mein neues Leben hinaustrat, fühlte ich mich seltsam gewichtslos. Ich fühlte mich leicht genug, um wegzutreiben. Das war der Moment, in dem Werner Pfeffer mich nach Informationen über seinen verstorbenen Vater fragte.
     »Ich weiß nichts von einem Fritz Pfeffer oder einer Familie namens Frank«, sagte ich und verschwand über die Twelfth Avenue nach Amerika hinein.

VIER

                           Am 23. Oktober, einen Tag nach der ›Arisierungs-Verordnung‹, wurde auf Otto Franks Betreiben
    hin vor einem Notar in Hilversum…
    ein neues Unternehmen gegründet…
    Kugler wurde Direktor, Aufsichtsrat der
    Amsterdamer städtische Angestellte J. A. Gies…
    Ein vollkommen ›arisches‹ Unternehmen also,
    wenigstens offiziell, denn der tatsächliche Eigentümer
    blieb weiterhin Otto Frank.

    Die Tagebücher der Anne Frank, Kritische Ausgabe

    Als die Tür zu Harrys Büro aufging und er in die Diele trat, wußte ich, daß das zeitliche Zusammentreffen kein Zufall war. Er hatte darauf gewartet, daß ich mein Büro verließ. Er wollte mit mir sprechen, aber es sollte nicht so aussehen, als wolle er es. Wenn ich vorgehabt hätte, es zu tun, wäre es mir ein leichtes gewesen, die Gelegenheit zu nutzen.
     Er ging neben mir her, ein kahlköpfiger Mann mit ewigem lila Schatten über dem Unterkiefer und einem massigen, schweren Körper, der mich an das Gummistehaufmännchen Shmoo meiner Tochter erinnerte. Das Spielzeug landet immer auf den Füßen. Abigail

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