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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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zurückgeblieben wäre, statt vorwärts zu gehen. Wenn ich nicht der erste gewesen wäre, die Hose aufzuknüpfen, als die SS in den Zug kam. Allmählich führten die Wenns zu Theorien. Ich habe überlebt, weil ich vorsichtig war. Ich habe überlebt, weil ich die Chance ergriffen habe. Doch hinter solchen Überzeugungen von der Effektivität gewisser Verhaltensweisen, oder Hand in Hand mit ihnen, stand die Ehrfurcht vor dem Zufall. Der Zufall hatte mich mit Harry Wolfe zusammengebracht – »Wolfe wie das Tier, aber mit einem E am Schluß«, sagte er immer, wenn er sich vorstellte –, aber ich hatte ihn genutzt. Ich meine sie, die Gelegenheit.
     »Harry besaß eine Parzelle Land«, krächzte ich. »Ich hatte ein bißchen Geld gespart und schaute mich nach einem Geschäft um.«
     Das war keine Lüge. Ich hatte Geld gespart, jeden Penny, den ich mit Kellnern und Taxifahren verdient hatte. Aber das war nicht der Grund dafür, daß Harry mich nahm. Er brauchte kein Geld. Er brauchte mich. Das war allerdings nicht mein Verdienst.
     »Er war der erste, mit dem ich in Amerika Freundschaft schloß.«
     Harry war Stammgast in dem Restaurant, in dem ich arbeitete. Das war, bevor er verheiratet war. Er kam drei-, viermal die Woche, gelegentlich mit einem Mädchen oder einem anderen Mann, aber normalerweise war er allein. Er beschäftigte sich mit Papieren, Dokumenten und Broschüren. Ich warf verstohlene Blicke darauf, wenn ich auftrug oder die Teller abräumte. »Handbuch für die staatliche Wohnungsbauverwaltung«, »Vorfertigungsmethoden und Kostenvoranschläge im Wohnungsbau«, »Hypothekenfinanzierung als Schlüssel zur Produktivität«.
     Eines Abends ertappte er mich dabei, wie ich einen Blick auf seine Bücher warf. »Das ist die Zukunft«, sagte er und tippte mit seinem Messer auf die Broschüre. »Die Wohnungsknappheit wird so bald nicht zu Ende sein.«
     Ich nickte und ging, um mich um andere Tische zu kümmern.
     »Seit dem Krieg«, sagte er, als ich zurückkam, »wollen jeder Joe und seine kleine Frau ein eigenes Haus. Genauer gesagt, die Regierung sagt, sie haben das Recht auf Eigentum. Das ist Teil der G. I. Bill of Rights.«
     Ich wußte, was die Bill of Rights war, ich hatte schon angefangen, für meine Staatsbürgerschaftsprüfung zu lernen, obwohl ich frühestens in vier Jahren dazu zugelassen werden würde. Ich kannte also das Gesetz über Landerwerb, aber ich hatte noch nie etwas von dem Gesetz über die Ausbildungsfinanzierung von Kriegsveteranen gehört. Heute kommt mir das seltsam vor.
     »Wissen Sie auch, wo die Leute ihr Haus haben wollen?« sagte Harry, als ich mit seinem Kaffee und einem Stück Kuchen zurückkam. Ich habe mich ihm nicht aufgedrängt, ich habe einfach meinen Job gemacht. »Nicht hier in der Stadt, wo die Kinder aufwachsen würden, ohne zu wissen, wie ein Grashalm aussieht, es sei denn, ihre Eltern schleppen sie zum Prospect Park. Nicht in den Städten, aus denen sie kommen, wo die Häuser alt sind und man viel Arbeit hineinstecken muß und am Ende für eine ganze Familie doch nur ein armseliges Badezimmer mit ungenügender Installation hat. Sie wollen in die Vorstädte. Brandneue, noch nie bewohnte Häuser in funkelnagelneuen Vororten. Wo die Kinder viel Platz zum Spielen haben. Und die kleine Frau eine blitzende neue Küche mit den modernsten Apparaten bekommt. Und wo man sich keine Gedanken über den Wert seines Besitzes machen muß, weil alle Häuser genauso aussehen wie das eigene, und alle Nachbarn sind wie man selbst oder zumindest frei, weiß und einundzwanzig.«
     Ich erzählte ihm, daß ich von Männern namens Levitt gelesen hatte, die so etwas auf Long Island planten. Seine Augen, die ein bißchen zu dicht beieinanderstanden, um Vertrauen zu erwecken, verengten sich, als würde er mich zum ersten Mal wahrnehmen. Ich war nicht einfach nur ein Greenie, der als Bedienung arbeitete. Ich könnte klüger sein, als ich aussah.
      Erinnere dich, was du gesagt hast, als er ankam, Anne. An jenem Morgen saßen wir beim Frühstück. Was für ein langweiliger und schüchterner Lulatsch, von dessen Gesellschaft nicht viel zu erwarten ist.
      Margot! Das habe ich nie gesagt.
     Eine Woche später sagte Harry zu mir, er habe eine zusätzliche Karte für das Spiel der Yankees und der Dodgers im Yankee-Stadion, ob ich Lust hätte mitzukommen. Ich wollte ungern einen ganzen Abend der Arbeit fernbleiben, aber etwas an Harry roch nach günstiger Gelegenheit. Mein Boß sagte immer zu

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