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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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dreht es um, es kippt sofort wieder in die aufrechte Stellung.
     »Wie geht's dem Hals, Kumpel?«
     Als ich Harry kennenlernte, nannte er mich immer Boytschik, doch nachdem er herausgefunden hatte, daß ich kein Jude war, wechselte er zu Kumpel. Er hörte auch auf, seine Rede mit jiddischen Ausdrücken zu pfeffern, zumindest wenn ich dabei war. Seine Stimme klang nun betont beiläufig, aber ich wußte, daß er sich Sorgen machte. Banken und Geschäfte geben nicht gerne Kredit an Behinderte. Niemand möchte ein Haus von einem Mann kaufen, der heute da ist und morgen vielleicht schon nicht mehr.
     »Wird jeden Tag besser«, sagte ich, als wir das Gebäude verließen und den Parkplatz betraten.
     »Prima, prima.« Er streckte sich und klopfte mir auf die Schulter. »Das Problem ist also gefunden?«
     Sie haben es nicht gefunden, Kumpel. Sie haben es nur benannt. Dr. Gabor nennt es Aphonie. Aber ich hatte nicht die Absicht, das Harry zu sagen. Ich hatte ihm noch nicht einmal von Dr. Gabor erzählt. Harry ist kein gefühlloser Mann. Er hat, könnte man sagen, eine gewisse Ehrfurcht vor Krankheiten. Er redet von Herzattacken und Schlaganfällen in geheimnisvollem Ton. Das Wort Krebs kommt ihm nie über die Lippen. Er spricht nur vom großen K, um die Sache zu benennen. Harry glaubt an die Macht des Wortes. Aphonie könnte ihm gefallen, musikalisch und medizinisch zugleich. Aber dann müßte ich ihm erklären, daß es keine physische Erkrankung ist, nur die Beschreibung des Fehlens einer solchen. Das würde ihn verwirren. Er zieht Krankheiten vor, die man unterm Mikroskop beobachten oder durch Röntgenstrahlen diagnostizieren oder mit Hilfe irgendwelcher anderer Maschinen messen kann.
     »Kein Grund zur Sorge«, sagte ich. »Es ist nicht angesteckt, ich meine, nicht ansteckend.« Ich korrigierte mich und lachte, um ihm zu zeigen, daß es als Witz gemeint war.
     Er schob sich die dunklen Haare zurück, die er sich seit letztem Jahr in Strähnen über den Kopf kämmte. »Der einzige Grund, weshalb ich frage, Kumpel, ist, daß ich selbst dauernd danach gefragt werde. Heute morgen habe ich George Johnson getroffen. Er wollte wissen, wie es meinem Partner geht, und ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte.«
     »Sag George und allen anderen, daß ich okay bin. Es geht jeden Tag besser. Du kannst ja hören, wieviel stärker meine Stimme ist«, krächzte ich in die Dämmerung.
     Wir hatten Harrys Auto erreicht, einen drosseleier-blauen Cadillac Coupe de Ville, frisch vom Fließband, und der Anblick des blinkenden Chroms und der kurvigen Kotflügel, die in jedes Varieté-Theater passen würden, lenkte ihn von meinen Problemen ab.
     »Er ist doch eine Schönheit, oder?« fragte er.
     Ich stimmte zu. Er machte die Tür auf und zwängte sich auf den weichgepolsterten Sitz, der so gut roch, daß man hätte hineinbeißen können. »Vielleicht solltest du dir das angewöhnen«, sagte er, indem er eine zerdrückte Packung Lucky Strikes aus seiner Tasche zog und den Zigarettenanzünder in das blinkende Armaturenbrett drückte. »Es würde deinem Hals nicht helfen, aber dir zumindest eine Entschuldigung liefern.«
     Er hielt das glühende Ende an die Zigarette, inhalierte tief und atmete aus. Das Aroma des Tabaks flog mir entgegen, süßer als der Geruch des neuen Leders, stärker als die giftigen Abgase des vorbeifließenden Verkehrs. Ich hielt mich an der babyblauen Tür von Harrys Auto fest, um nicht vornüber zu kippen.
      Weißt du, warum wir kein Geld für Essen haben, Putti? Weil alles in Rauch aufgeht. Dem Rauch deiner dreckigen Zigaretten.
     Der Schmerz verschwand so schnell, wie er gekommen war, aber ich wußte, ich hatte ihn mir nicht eingebildet. Ich stand da in der Dämmerung, schwitzend vor Angst. Dr. Gabor und die anderen Ärzte hatten unrecht. Der Schmerz war zu scharf gewesen, um psychosomatisch zu sein. Es mußte sich um das Symptom einer ernsten Erkrankung handeln.

    Ich kam zehn Minuten zu spät zu meiner Verabredung mit Dr. Gabor und schob die Schuld auf Harry.
     »Mein Partner wollte unbedingt noch etwas mit mir besprechen«, sagte ich.
     »Probleme?«
     »Nur geschäftlich.«
     »Kommen Sie mit Ihrem Partner gut aus?«
     Ich nickte.
     »Wie sind Sie dazu gekommen, zusammenzuarbeiten?«
     Wenn man im D.-P.-Lager überhaupt über die Vergangenheit sprach, dann darüber, was gewesen wäre, wenn. Wenn ich heute morgen an der Spitze der Warteschlange gestanden hätte und nicht am Ende. Wenn ich

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