Der Junge, der Anne Frank liebte
Ihren guten holländisch-amerikanischen Namen und Ihren Identitätsausweis, auf dem keine Religion angegeben ist, und betreten Sie Amerika als einer, der nicht zu den Auserwählten gehört.
Ich hatte jahrelang darüber nachgedacht. Ich hatte mich zehnmal, vielleicht hundertmal neu entschieden. Ich hatte alle Chancen hin und her überlegt, ich hatte die Gefahren bedacht und die praktische Durchführbarkeit. Aber nie hatte ich erwartet, daß es mir so leicht gemacht werden würde. Es wurde nicht kontrolliert, wer ich war. Es gab keine Spur von dem, was ich gewesen war. Das Rote Kreuz führte mich noch nicht einmal als Überlebenden. Den Unterlagen zufolge bin ich auf einem Todesmarsch oder kurz danach in Mauthausen gestorben. Das wäre vielleicht auch so gewesen, wenn der deutsche Soldat, der nicht weniger arisch aussah als die SSOffiziere, die uns Richtung Westen vorwärtsgetrieben hatten, nicht doch wesentlich humaner gewesen wäre als dieses Schwein von einem Bauern in der Scheune. Jedenfalls hatte er mir, aus irgendeiner Anwandlung, die ich nie verstehen werde und die er vielleicht selbst nicht verstand, dieses schimmelige Brot gegeben. Aber vielleicht hatte er es auch verstanden. Schließlich war das Kriegsende in Sicht. Vielleicht benutzte er das Brot, um seinen Handel mit der Zukunft zu machen. Aber es war alles Spekulation, über die Motive des Mannes, über das Schicksal eines Jungen namens Peter van Pels.
Ich hob die Hand, um den Ausweis wieder zu nehmen. Mein Ärmel rutschte zurück, nur ein paar Zentimeter, nicht weit genug, damit der Offizier die Nummer sah, aber ich wußte, daß sie da war. Sie war nicht auf dem Dokument eingetragen, weil sie kein besonderes Kennzeichen war, aber sie konnte mich noch immer verraten. Ich fragte mich, was dieser blöd grinsende Offizier, der gerade antisemitische Verunglimpfungen vor sich hingemurmelt hatte, wohl sagen würde, wenn ich meine Jacke ausziehen, den Ärmel hochschlagen und ihm zeigen würde, daß ich nur ein weiteres Stück Abfall der Welt war. Aber nicht jeder im Lager war jüdisch gewesen. Die Nummer zeigte zwar, wo ich gewesen war, aber nicht, wer ich war. Eines Tages würde ich sie mir sogar entfernen lassen können. Ich hatte schon gehört, daß es Ärzte gab, die so etwas taten.
Ich starrte auf das abgegriffene Dokument in der Hand des Zolloffiziers. Ich glaubte nicht an Gott. Wie hätte ich das tun können, nach allem, was ich gesehen hatte und wo ich gewesen war? Ich erinnerte mich noch nicht einmal an die Gepflogenheiten, die damit zu tun hatten.
Der Schweiß trat mir auf die Oberlippe, er tropfte aus meinen Achselhöhlen und lief an meinem Körper herunter. Mein Hemd war naß. Meine Unterhose war ein nasser Lumpen, der an meinem Bauch, an meinen Arschbacken und an meinem wahren Problem klebte, dem Beweis, wer ich war. Der Schnitt Abrahams, das Zeichen des Bundes, die Beschneidung meiner Kindheit, die fehlende Vorhaut, der unbestreitbare Beweis meiner Identität.
Ich stand da und starrte den Mann in Uniform an, der mich fälschlicherweise für einen Nichtjuden gehalten hatte, und erinnerte mich an andere Männer in Uniform, die genauso unfähig gewesen waren. Nein, ich erinnerte mich nicht, denn diese Geschichte gehörte nicht zu mir, obwohl sie irgendwie durch Wiedererzählen und eigene Vorstellungskraft zu meiner geworden war.
Der Mann, der sie mir erzählte, war gefangengenommen und deportiert worden, zusammen mit polnischen Widerstandskämpfern – ein paar Katholiken, ein paar Kommunisten, aber alles Antisemiten, hatte der Erzähler geschworen –, doch nun hieß es, einer von ihnen sei Jude. Sofort kamen SS-Leute, schrien Obszönitäten, schlugen mit ihren Gewehrkolben auf die Männer ein und verlangten von ihnen, ihre Hosen herunterzulassen. Der Mann, der die Geschichte erzählt hatte, war vorgesprungen und fing an, an seinen Knöpfen zu fummeln. Ein Gewehrkolben traf ihn gegen die Brust. Er stürzte zu Boden, zwischen die Meute der stöhnenden, zusammengeschlagenen unbeschnittenen Widerstandskämpfer, und blieb unentdeckt.
Aber ich war nun in Amerika. Hier verlangten die Männer in Uniform nicht von anderen Männern, ihre Hosen runterzulassen. Hier lächelten die Männer in Uniform, sogar wenn sie Beleidigungen vor sich hinmurmelten, und sagten »Willkommen« und »Viel Glück«, und »Sie werden sich hier bestimmt gleich zu Hause fühlen«.
Doch früher oder später würde ich meine Hosen herunterlassen müssen. Ich
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