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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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Bankreihen hindurch und war nach etwa einem Drittel durch einen staubigen, roten Vorhang abgetrennt. Ich hatte den Vorhang vergessen. Freitag abends und samstags und an den Feiertagen wurde er vorgezogen, um die Männer von den Frauen zu trennen.
     Ich lief den Gang hinunter, am Vorhang vorbei bis zu dem langen, schmalen Raum. Die Lade stand offen. Die Tora lag auf einem großen Holztisch, um den sich einige Männer drängten. Sie waren in Gebetsschals gehüllt und sangen. Obwohl ich die Worte nicht verstand, antwortete etwas in mir auf den untröstlichen Tonfall, aber wessen Seele antwortet nicht auf Klagelieder in Moll? Beim Singen beugten sie die Knie, dann wieder bogen sie sich nach vorn. Diese Bewegung war mir sehr vertraut, obwohl ich sie nie selbst ausgeführt hatte. Der Gedanke, daß sie mir vielleicht im Blut lag, ließ mich erschauern. Das würde ihnen recht geben. Aber war es nicht das, weshalb ich hier war?
     Einer der Männer trennte sich von der Gruppe und kam, sich immer noch verneigend und singend, rückwärts durch den Gang auf mich zu. Als er mich erreichte und sich umdrehte, war ich überrascht. Von weitem sahen sie, in Gebetsschals gehüllt und mit angelegtem Gebetsriemen, alle alt aus, aber dieser Mann mußte ungefähr in meinem Alter sein. Sein schwarzes Käppchen saß keck auf einem Wust roter Haare. Unter dem Lederstreifen, mit dem ein schwarzes Kästchen auf seiner Stirn festgebunden war, bedeckten Sommersprossen seine helle Haut. Die Haare, schoß es mir plötzlich durch den Kopf, könnten ihn gerettet haben, falls man ihn nicht gleich umgebracht hätte. Sie würden wissenschaftliche Experimente mit ihm angestellt haben, um etwas über diese kleine Besonderheit herauszufinden, ein rothaariger Jude. Er verneigte sich wieder. Ich war nicht sicher, ob das Teil seines Tanzes war oder ob er sich vor mir verbeugte. Er hielt mir ein schwarz eingebundenes Buch hin. Als er das tat, rutschte sein Gebetsschal herunter. Bänder, die ein weiteres Lederkästchen an seinem Arm befestigt hatten, drückten sich in das Fleisch und verzerrten die eintätowierte Nummer. Er hielt mir noch immer das Buch hin, genau wie jener Zolloffizier mir an jenem Morgen meine Papiere hingehalten hatte. Ich nahm es.
     Er schob mich in eine Bankreihe und folgte mir. Obwohl er ein offenes Buch in der Hand hielt, schaute er nicht hinein. Während er mit dem Gebet fortfuhr, wandte er den Blick nicht von mir. Ich schaute starr geradeaus. Er griff zu mir herüber, schlug das Buch auf, das ich in den Händen hielt, blätterte darin herum, dann schaute er mich an und nickte zu der aufgeklappten Seite. Ich blickte hinunter. Seltsame Schriftzeichen zogen sich über das Blatt. Ich erkannte die Formen, verstand aber nicht ihre Bedeutung. Ich wußte nicht einmal, wie man sie aussprach. Ich schaute zur offenen Lade. Mein Blick erhob sich, aber mein Geist folgte nicht. Ich fühlte nichts. Ich schloß die Augen und konzentrierte mich auf die Klagen der betenden Männer. Ich beugte meine Knie und versuchte, meine Schultern nach vorn zu senken, aber so etwas wie ein eiserner Draht, vom Himmel gespannt, hielt mich aufrecht. Ich wartete auf eine Reaktion. Ich wollte, daß mein Magen sich vor Hunger zusammenschnürte. Ich hoffte, meine Nackenhaare würden sich aufrichten. Aber es nützte nichts. Der Anblick von Annes Tagebuch hatte mich verstummen lassen. Diese halberinnerten Rituale und Gegenstände verursachten mir noch nicht einmal eine Gänsehaut.
     Ich wartete, bis die Betenden ihr letztes Amen riefen, ihre Gebetsschals abnahmen und dann den Gang entlangkamen. Der Mann mit den roten Haaren folgte mir, ich hatte gewußt, daß er es tun würde. Er hüstelte, als ich die Tür erreichte, beugte sich zu mir und sagte etwas. Ein kräftiger Hauch Mottenkugeln traf mich. Mottenkugelplätzchen nannte Anne sie, wenn meine Mutter sie aus der Blechdose nahm, denn sie hatten in einem mottensicheren Schrank gestanden. Hier, in dieser fremden Synagoge, konnte ich wieder fühlen, wie sie süß auf meiner Zunge schmolzen.
     »Sind Sie Jude?« fragte er.
     Ich starrte diesen alt aussehenden jungen Mann an. Die Haare standen ihm um den Kopf, als wären sie elektrisiert. Sein schäbiger, ärmelloser Pullover bauschte sich über einem ausgeblichenen Flanellhemd, seine staubigen Hosen fielen über abgetragene Schuhe.
     »Ich bin Amerikaner«, sagte ich.
     »Ich auch. Ich war etwas anderes. Glauben Sie, ich könnte sonst hier in der schul stehen? Dort, in

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