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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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Schwiegervater ein Selfmademan war?
     Der Preis ließ mich wünschen, ich könnte meinem Vater davon erzählen, obwohl ich in diesen Tagen selten an ihn oder an meine Mutter dachte. Was gab es da schon zu denken? Sie waren nicht mehr da. Dieser Teil meines Lebens war tot und begraben.
     Ich glaubte an die Zukunft. Deshalb war ich nun in Dr. Joseph Millers Praxis, deshalb und wegen meiner Tochter Abigail. Abigail war nun sechs, alt genug für Scham. Das war der Ausdruck, den ich auf ihrem Gesicht gesehen hatte, als ich eines Nachmittags von meiner Werkbank im Souterrain aufschaute.
     Ich war gerade mit den letzten Arbeiten an dem Puppenhaus beschäftigt, das ich für sie baute. Susannahs Tochter Debbie war bei uns. Debbie war fünf Monate älter als Abigail und in den großen blaugrauen Augen meiner Tochter die Quelle aller Weisheit und Urteilskraft. Ich war der Ansicht, meine Nichte hätte einen Hauch von Sadismus im Blick, aber vielleicht war ich ja bloß ein überfürsorglicher Vater. Jedenfalls war das die Formulierung, die Madeleine benutzte.
     Ich befestigte gerade das letzte Stück Velourstapete in dem kleinen Viktorianischen Eßzimmer. Es war eine heikle Arbeit, besonders für so große Hände wie meine, und ich beugte mich vor, spähte in das Haus und konzentrierte mich auf das, was ich tat. Die beiden Mädchen standen neben der Werkbank und sahen mir zu. Den ganzen Nachmittag über hatten sie schon geplappert und gekichert und geflüstert, und anfangs fiel mir die Stille nicht auf. Erst als ich das Papier an der Wand geglättet hatte und mich zurücklehnte, sah ich, daß sie mich anstarrten. Nein, nicht mich, sondern meinen linken Arm. Debbies Mund war vor Abscheu zu einer kleinen Rosenknospe zusammengezogen. Aber es war der Ausdruck auf dem Gesicht meiner Tochter, der mich traf. Ich erkannte ihn sofort, obwohl ich ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Es war der Ausdruck, den auch wir auf unseren Gesichtern gehabt hatten, nicht wenn wir selbst den Horror ertragen mußten, sondern wenn wir gezwungen waren, Zeugen zu sein, wie er anderen zugefügt wurde. Es war Scham. Und Scham hatte keinen Platz auf dem Gesicht meiner Tochter.
     Am nächsten Morgen rief ich Dr. Miller an und machte einen Termin mit ihm aus. Ich hatte es monatelang, vielleicht jahrelang aufgeschoben, doch nun war ich bereit.
     »Es ist eine einfache Prozedur«, sagte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, der, wenn ich darüber nachdachte, gar nicht so anders war als Dr. Gabors großes Dreh- und Schwenkmodell, aber damit war es mit der Ähnlichkeit auch schon vorbei. Millers Bürstenhaarschnitt, dünn und gelb wie Kükenflaum, ließ ihn unglaubwürdig naiv aussehen. Kein erwachsener Mann konnte so unschuldig sein. Sein gestärkter weißer Kittel wirkte sehr steril. Seine Augen, hinter einer dicken Hornbrille, waren auf einen Punkt ein paar Zentimeter über meinem Kopf gerichtet. Vielleicht war dies das Geheimnis seiner Unschuld. Er schaute seinen Gesprächspartner nicht zu direkt an.
     »Was wir tun, Herr van Pels, ist, die Nummer zu entfernen, wie wir einen Tumor oder ein Muttermal entfernen würden. Wenn die Fläche zu groß ist, übertragen wir Haut, aber ich bin sicher, daß das in Ihrem Fall nicht nötig sein wird. Es ist nur eine normale Wald- und Wiesentätowierung.«
     Eine normale Wald- und Wiesentätowierung wie Millionen andere. Zumindest hatten sie damals Millionen andere. Heutzutage gab es weniger davon, allerdings nicht wegen Dr. Miller und seinen Kollegen. Aber darüber würde ich nicht nachdenken. Die Tatsache, daß andere mit ihren Tätowierungen gestorben waren, hieß nicht, daß ich mit meiner leben mußte. Genauer gesagt, es hieß nicht, daß meine Tochter mit meiner leben mußte.
     »Wenn Sie sich entscheiden, das zu tun…«
     »Ich habe mich schon entschieden.«
     »Gut.« Der Doktor stand auf. »Meine Sprechstundenhilfe wird Ihnen einen Termin geben.« Er kam um den Tisch herum zu dem Platz, wo ich stand, und ging auf die Tür zu. »Es gibt heutzutage keinen Grund, mit solch einem unsichtbaren Schönheitsfehler herumzulaufen.« Ein Schönheitsfehler. So hatte ich es nie gesehen. »Sie würden staunen über die Fortschritte, die wir gemacht haben. Damit will ich nicht sagen, daß wir Gott spielen.« Er fuhr mit der Hand über seinen gelben Flaum. »Aber wir können viele Fehler der Natur korrigieren. Der Menschen auch. Ich habe Dutzende solcher Nummern wie Ihre entfernt.«
     Es gab keine Nummer wie

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