Der Junge, der Anne Frank liebte
Leute kamen aus den Lagern zurück und stellten fest, daß ihre Nachbarn in den Betten schliefen, die ihnen gehört hatten, und an ihren Tischen aßen und vergessen hatten, daß sie sie überhaupt kannten, geschweige denn, daß sie zugaben, ihren Besitz so lange in Gewahrsam genommen zu haben, bis sie ihn zurückfordern konnten. Habt ihr nicht genug Schwierigkeiten gemacht? fragten die braven Menschen von Amsterdam und betonten hartnäckig, eigene Probleme zu haben. Wenn die Deutschen so viele Juden in ihren Lagern umgebracht haben, warum kommen dann so viele zurück? Für deutsche Juden war es in beiden Welten am schlimmsten. Die niederländische Regierung machte die Nazigesetze gegen die Juden rückgängig, dann erklärte sie deutsche Juden zu nationalen Feinden. Ich würde nicht dahin zurückkehren, noch nicht einmal als Nichtjude.
Noch etwas kam mir während eines anderen Drei-Uhrnachts-Alptraums. Ich würde in die Kirche gehen. Ich würde mein neues Selbst voll und ganz annehmen.
Ich hatte die Wahl zwischen der episkopalen, der presbyterianischen, der lutherischen und der katholischen Kirche und vielleicht noch einem halben Dutzend anderer, die ich bei meinen Fahrten durch diese Gegend nicht bemerkt hatte. Madeleine würde es seltsam finden. Wir waren beide keine gläubigen Menschen und waren übereingekommen, die Kinder ohne Aberglauben zu erziehen. Aber sie hatte gesehen, wie ich vom Büro zurückkam und den Eindruck machte, als wäre ich in die Hände von ein paar Rowdys geraten, und dann hatte sie mich ertappt, wie ich dem Baby das Essen wegessen wollte, sie hatte mein Auto auf dem Bahnhofsparkplatz entdeckt, obwohl ich das abgestritten hatte. Dazu paßte wohl auch noch ein untypischer Besuch in der Kirche.
Ich fuhr an der Christ Church vorbei, die sich nur ein paar Minuten von unserem Haus entfernt befand, hielt jedoch nicht an. Ich blieb vor der St. Michaels Church stehen, aber die Christusstatue am Kreuz, an das ich ihn genagelt haben sollte, wenn die höhnischen Bemerkungen meiner Kindheit stimmten, hinderte mich am Aussteigen. Als ich im Rückspiegel ein näher kommendes Polizeiauto sah, während ich vor All Souls stand, drehte ich den Schlüssel im Zündschloß, legte den ersten Gang ein und stieß in meiner Eile, von dort wegzukommen, fast mit einem anderen Auto zusammen.
Es wurde gerade hell, als ich am nächsten Morgen rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Madeleine schlief noch. Ich hatte ihre wirren Haare geküßt und ihr zugeflüstert, daß ich früh verabredet wäre und leider vergessen hätte, es ihr zu sagen.
»Weck das Baby nicht auf«, hatte sie gemurmelt und war noch einmal in ein paar Minuten süßer Unbewußtheit versunken.
Eine Schicht abgefallener Blätter machte die Straße heimtückisch unter den Rädern. Als ich die Autobahn erreicht hatte, warf ich einen Blick auf den Tacho. Ich fuhr fünfundzwanzig Stundenkilometer über der zulässigen Geschwindigkeit. Ich bremste nicht ab. Ich ließ das fahle Sumpfland und die klotzigen Öltanks von New Jersey hinter mir, überquerte die Goethals Bridge und fuhr weiter in östlicher Richtung. Ich war seit Jahren nicht mehr dort gewesen, aber ich kannte den Weg noch. Wenn ich damals an diesem Gebäude vorbeigekommen war, hatte ich immer meine Schritte beschleunigt, um es so schnell wie möglich hinter mir zu lassen.
Ich fand einen Parkplatz die Straße etwas weiter unten. Der Regen hatte sich in Nebel verwandelt. Er stieg von der Straße auf und trug den Gestank der Gullys mit sich. Ein Mann führte einen dreibeinigen Hund aus. Zwei Jungen rannten platschend durch eine Pfütze. Eine Frau, den Regenmantel fest um sich gewickelt und mit einem Tuch auf dem Kopf, ging um die Pfütze herum. Keiner von ihnen schenkte mir einen Blick. Türen hatten ihre mißtrauischen Gesichter der Straße zugewandt, und in der feuchten Morgenluft schienen die Worte zu hängen: Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Ich war weit weg von Indian Hills.
Die rote Backsteinfassade, vom Regen schwarz gestreift, hätte einen Anstrich gebrauchen können, ein zerbrochenes Fenster war mit einem Stück Karton zugeklebt. Die schwere Holztür ging leicht auf, obwohl ich, so wie sie aussah, angenommen hatte, sie würde klemmen.
Der Geruch nach alten Büchern und Kampfer und Kohl umfing mich. Ich wunderte mich über den Kohl.
Von da aus, wo ich stand, konnte ich den schmalen Gang entlang bis zum vorderen Teil der Synagoge schauen. Er führte zwischen
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