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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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putze mir die Nase und schaue mich um. Frauen eilen an mir vorbei, die Körper vorgebeugt in der Anstrengung, ihre übervollen Einkaufswagen zu schieben, sie streifen mich mit den Augen, schauen wieder weg. Ein Junge bleibt stehen und starrt mich an. Seine Mutter packt seine Hand und zieht ihn weiter. Eine andere Frau vermeidet das von vornherein. Ihr Kind an der Hand, schiebt sie ihren Wagen in einem weiten Bogen um mich herum. Ich starre aus dem Käfig meines Autos hinaus auf sie. Ich erkenne das Mißtrauen dieser Menschen so deutlich, als schwebten Sprechblasen über ihren Köpfen. Ein Verrückter. Ein Krimineller. Ein Mörder.

    In dieser Nacht, als Madeleine neben mir schlief, verließ ich das Bett und schlich leise hinunter in die Küche. Nach dem weichen Teppich fühlte sich das Linoleum unter meinen nackten Füßen kühl und glatt an. Ich schloß die Lamellentür, bevor ich das Deckenlicht anmachte und gegen die Helligkeit blinzelte. Auf dem Weg zum Kühlschrank lehnte ich mich ans Fenster, schützte meine Augen mit der Hand, um das Licht des Zimmers auszublenden, und schaute hinaus auf die Häuser meiner Nachbarn. Ein voller Mond vergoß einen geisterhaften Glanz über die Höfe, aber nirgendwo brannte Licht. Indian Hills schlief ruhig und friedlich, nahm ich an.
     Ich ging hinüber zum Kühlschrank, machte die Tür auf und räumte den Inhalt aus. Ein Stück nach dem anderen brachte ich zum Tisch. Zwei Hühnerbeine, eine Scheibe Hackbraten, eine halbe Pastete, ein Glas Erdnußbutter, eine Flasche Milch, eine mit Frischhaltefolie bedeckte Schüssel Spaghetti, ein halbleeres Glas Babynahrung. Ich hatte mich durch ein Hühnerbein und die Spaghetti gearbeitet, als Madeleine die Tür aufmachte. Sie blinzelte gegen das Licht. Ihre Augen wanderten vom Teller zur Schüssel und zur Flasche meines anstößigen Mahls, dann zu mir.
     »Geht es dir gut?« fragte sie sanft.
     »Bin nur ein bißchen hungrig.«
     Ihre Augen leuchteten beim Anblick des Glases Babynahrung auf.
     »Ich muß halb geschlafen haben«, sagte ich und brachte das Glas zurück in den Kühlschrank. »Ich habe gedacht, es wäre normales Apfelmus.«
     Sie starrte mich noch immer an, als ich vom Kühlschrank zurückkam, das hübsche, liebevolle Gesicht besorgt verzogen. Meiner armen Frau dämmerte langsam, daß sie, was ich schon längst wußte, vielleicht doch nicht das große Los gezogen hatte.

ACHT

       Er (Peter) hätte es bequemer gefunden, wenn er Christ wäre oder wenn er es nach dem Krieg sein könnte. Ich fragte ihn, ob
    er sich taufen lassen würde, aber das war nicht der Fall. Er
    könnte doch nicht fühlen wie die Christen, sagte er.
    Anne Frank, Tagebuch, 16. Februar 1944

    Ich überlegte, nach Amsterdam zu fahren, nur für eine oder zwei Wochen. Ich sagte mir, das würde die Geister zur Ruhe bringen. Aber eigentlich wollte ich sie zum Leben erwecken. Ich lag um drei Uhr morgens im Bett, in dieser heimtückischen Stunde, wenn alles angekrochen kommt, und höre meine Mutter mit dem Selbstmord drohen, weil sie solche Angst vorm Sterben hat. Ich sehe meinen Vater toben, weil wir kein Geld mehr haben, das wir Miep geben können, um Essen zu kaufen, und ich sehe mich, wie ich mich entschuldige, weil ich vergessen habe, die Tür zur Straße aufzuriegeln. Abends, nachdem die Lagerarbeiter gegangen sind, schleichen wir oft aus dem engen Hinterhaus hinunter ins Erdgeschoß, ins Büro und in das Lager, wo wir uns ein paar Stunden lang in dem Gebäude bewegen können. Wenn wir unten sind, verriegeln wir immer von innen die Tür zur Straße, um sicher zu sein. Es ist meine Aufgabe, den Riegel wieder zurückzuschieben, bevor wir in unser Versteck hinaufgehen. Aber an jenem Abend habe ich es vergessen, und am nächsten Morgen können die Männer nicht rein. Ich lag im Bett und schwor, zurückzukommen und die Tür aufzuriegeln. Ich würde es wiedergutmachen. Ich würde sie retten.
     Doch als die Dämmerung durch die Fenster drang, wußte ich, daß ich nicht zurückgehen würde. Zwar hatten Miep, ihr Mann Jan, Kleiman und Kugler ihr Leben riskiert, um unseres zu retten, und ich erinnerte mich auch an die Worte, die ein Niederländer auf eine Brücke über den Kanal geschrieben hatte, vor den Fenstern, durch die wir nicht hinausschauen durften. Die Scheißmoffen sollen ihre Scheißpfoten von unseren Scheißjuden lassen! Aber es gab auch andere. Nach allem, was ich im D.-P.-Lager gehört hatte, war die Situation nach dem Krieg nicht besser geworden.

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