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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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Gebetbuch. Schwarze Buchstaben wanderten über das dicke Papier. Van Pels, Peter, Ehefrau Madeleine, Tochter Abigail, Tochter Elizabeth. Sobald das Baby auf der Welt war, würde ich einen weiteren Namen eintragen lassen.
     Ich legte ihn zurück in den Safe und nahm den Pappumschlag heraus. Er war schwerer als das schmale, blaue Dokument. Ich wickelte das Band vom Umschlag und machte die Klappe auf. Das Geld ruhte darin, sortiert und gebündelt, jeder Packen von einem Gummiband zusammengehalten. Ich nahm die Bündel heraus, ordnete sie auf das Brett des Regals und legte dann den Umschlag zur Seite, um beide Hände zum Zählen frei zu haben. Der Doktor hatte unrecht. Man konnte die Vergangenheit nicht ausradieren. Deshalb hatte ich die Praxis verlassen. Ich war zunächst selbst irritiert, aber dann nicht mehr. Ich hatte mich richtig entschieden. Es war nicht so, daß ich ohne die Nummer nicht mehr ich selbst wäre, da irrte Madeleine, sondern es ging darum, daß der Versuch, die Vergangenheit ungeschehen zu machen, nur eine andere Form war, in der Vergangenheit zu leben. Ich aber interessierte mich für die Zukunft. Deshalb achtete ich darauf, den Paß auf dem laufenden zu halten, und deshalb legte ich regelmäßig Geld in den Umschlag. Mein Leben war besser, als ich es mir damals, im D.-P.-Lager, in meinen wildesten Träumen hätte vorstellen können. Trotzdem möchte ich auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.
     Ich legte den Umschlag zurück in den Safe, drehte das Schloß zu und kehrte so leise ins Schlafzimmer zurück, wie ich es verlassen hatte.
     Ich war gerade am Eindösen, als ich spürte, wie Madeleine sich an meinen Rücken preßte. Ihr Arm schob sich schmeichelnd unter meinen, ihre Hand legte sich auf meine Brust, das Baby wurde gegen meinen Rücken gepreßt.
     »Ist noch alles da?«
     »Was meinst du?«
     »Im Safe. War es nicht das, was du getan hast?«
     »Ich wollte nur etwas nachschauen.«
     Sie knabberte an meinem Ohr. »Das war nicht ernst gemeint, kein Vorwurf.«
     »Ich habe versucht, dich nicht aufzuwecken.«
     »Du warst es nicht, der mich aufgeweckt hat. Es war deine Abwesenheit.«
     Ich griff nach hinten und legte mein Bein über eines der ihren. Sie bewegte die Hand von meiner Brust zu meinem Arm. Ihre Fingerspitzen berührten die Nummer. Erst dachte ich, es sei nur zufällig gewesen, dann wurde mir klar, daß sie wußte, was sie berührte. Sie tat es absichtlich.

ZEHN

    Wie weit bleibt man der Welt auch dann noch verpflichtet,
    wenn man aus ihr verjagt ist?
    Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten

    Ich hörte den Schrei nicht, der die Ankunft meines Sohnes verkündete. Der Warteraum befand sich in einiger Entfernung vom Kreißsaal, in den sie Madeleine vor noch nicht mal einer Stunde gerollt hatten. Er kam so schnell. Mein Sohn war ungeduldig, so wie ich.
     Ich hatte mich ja schon für einen glücklichen Mann gehalten. Jetzt konnte ich mein Glück kaum fassen. In dem Moment, in dem ich ihn sah, nachdem mir der Doktor eine Minute zuvor gesagt hatte, es wäre ein Junge, fielen alle Vorbehalte, die ich gegen einen Sohn gehabt hatte, von mir ab. Das Problem war nicht un-überwindbar. Was sage ich da? Es gab kein Problem. Ich hatte die Wahl, und ich hatte sie schon getroffen. Ich würde mir diese Freude durch nichts verderben lassen.
     So wie ich, bis auf eine Zahl, die gleiche Nummer trug wie mein Vater, trug ich, genau wie mein Vater, aus Abraham gekommen, das gleiche Zeichen des Bundes. Ich glaubte nicht an den Bund. Ich war kein Jude mehr. Es gab keinen Grund, meinen Sohn beschneiden zu lassen. Andererseits gab es auch keinen Grund, es nicht zu tun. In Amerika waren viele Nichtjuden beschnitten, einschließlich George Johnson, der zu dem Country Club gehörte, über dessen Schwelle er meine Frau nicht treten lassen würde. Ich wußte, daß George Johnson beschnitten war, weil er mich, noch bevor er das mit Madeleine herausfand, eingeladen hatte, dort Golf zu spielen, und ich hatte in der Umkleidekabine sorgfältig auf alles geachtet. Ich war in guter Gesellschaft gewesen. Zumindest war ich nicht allein. Jenes dunstige Kellergeschoß, das von muffigem Deodorant und ausgereiftem Whiskey und gut gelauntem, hänselndem Geplänkel brodelte, war meilenweit entfernt von einem Viehwaggon voller polnischer Widerstandskämpfer, aber ich hatte den Ton in den Ohren. Laß deine Hose runter, laß deine Hose runter. Es gab Hunderte solcher Geschichten. Blonde Jugendliche, die sich als

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