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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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her trödelte, konnte sie sich nicht mehr beherrschen und fragte, warum ich meine Meinung geändert hätte.
     »Es kam mir plötzlich nicht mehr gut vor.«
     »Gestern abend war das nicht so. Oder in den vergangenen zwei Wochen. Hast du damals nicht zum ersten Mal den Arzt aufgesucht?«
     Wir waren also wieder an diesem Punkt. »Ich wollte dich nicht beunruhigen, deshalb habe ich dir nichts davon gesagt, daß ich bei ihm war.«
     Sie antwortete nicht.
     »Willst du damit sagen, daß du enttäuscht bist?«
     »Daß du es mir nicht gesagt hast?«
     »Daß ich die Nummer nicht entfernen ließ?«
     »Mir ist es nicht so wichtig, daß du sie entfernst.«
     Ich warf ihr von der Seite einen Blick zu. Sie saß am äußersten Rand des Beifahrersitzes, mit dem Rücken gegen die Tür. Den Kindern erlaubte ich nie, so zu sitzen. Es war gefährlich. »Lehn dich nicht an die Tür.« Sie veränderte ihre Position. »Wenn du nicht gewollt hast, daß ich es tue, warum hast du es nicht gesagt?«
     »Wann? Gestern abend um elf? Heute morgen auf der Hinfahrt?«
     »Du hättest es mir sagen sollen.«
     »Du hättest…«, fing sie an, dann hielt sie inne.
     »Warum wolltest du nicht, daß ich es tue?«
     »Ich habe nicht nicht gewollt, daß du es tust.«
     »Entscheide dich. Du hast nicht gewollt, daß ich es tue, aber du hast auch nicht nicht gewollt, daß ich es tue.«
     »Ich wollte, daß du es aus eigenen Stücken tust. Aber ich hielt es nicht für notwendig.«
     »Notwendig?«
     »Es ist in Ordnung so.«
     »Die Frau, die sich nicht einmal Löcher in die Ohren stechen läßt, sagt mir, es sei in Ordnung, mit einer tätowierten Nummer im Arm herumzulaufen.«
     »Ich wollte damit sagen, daß ich daran gewöhnt bin.«
      »Du bist daran gewöhnt. Das macht alles richtig. Dann ist es, verdammt noch mal, wundervoll, mit einer tätowierten Nummer im Arm herumzulaufen.«
     »Das habe ich doch nicht gesagt. Alles, was ich gesagt habe, ist, daß es zu dir gehört.« Sie zögerte. Eine andere Wand mit Reklameschildern raste vorbei. Zündkerzen, Frühstückscerealien und Autoreifen. »Ohne die Nummer wärst du nicht du.«
     Was für ein blödes Argument, wollte ich schreien. »Hör auf, dich an die Tür zu lehnen«, sagte ich.

    Ich wartete, bis Madeleine eingeschlafen war. Sie wußte von dem Safe hinter dem Wäscheschrank. Sie hatte zugeschaut, als ich ihn damals, kurz nach unserem Einzug, eigenhändig eingebaut hatte. Ich hatte ihr nie die Kombination gesagt, nicht weil ich ihr nicht traute, sondern weil ich immer vergaß, sie für sie aufzuschreiben. Aber nichts im Safe war vor ihr geheim. Alles, was darin war, war für sie, für sie und die Kinder.
     Ich lauschte, wie ihre Atemzüge tiefer und regelmäßiger wurden, dann wartete ich, nach der Uhr auf dem Nachttisch, noch weitere fünf Minuten. Als ich sicher war, sie nicht aufzuwecken, schlich ich durch das Zimmer, machte dabei einen weiten Bogen um den stummen Diener vor dem Schrank und den Stuhl in der Ecke, und schloß die Tür hinter mir. Ich wollte sie nicht durch das Licht stören. Ich schloß auch die Tür zum Zimmer der Mädchen. Obwohl der Inhalt des Safes für sie war, waren sie zu jung, um von solchen Dingen etwas zu erfahren.
     Ich knipste das Licht in der Diele an und öffnete die Tür des Wäscheschranks. Der Geruch nach Sauberkeit füllte meine Lungen. Ich nahm einen Stapel Handtücher aus dem Fach vor dem Safe, sorgfältig, nicht weil ich mir Sorgen machte, Madeleine könnte sonst merken, daß ich am Safe war, sondern einfach nur, weil ich ihre oder Frau Goralskis Ordnung nicht stören wollte. Ich bin kein rücksichtsloser Mensch.
     Ich öffnete die falsche Tür, die in die Rückwand des Schranks geschnitten war. Der Stahlsafe schimmerte im Licht der Lampe. Ich griff in den Schrank und drehte den Knopf. Achtmal nach rechts, viermal nach links, sechsmal nach rechts. Der Monat und das Jahr, in dem ich in Amerika angekommen war. Meine Fingerspitzen spürten, wie die Zahlen an ihrem Platz einklickten. Schon allein das Öffnen des Safes bereitete mir Vergnügen.
     Ich schwang die Tür ganz auf. Der Anblick des offiziell aussehenden Passes und des dicken Pappumschlags wirkte auf mich immer wie ein Schluck Whiskey, halb Adrenalin, halb Entspannung. Ich nahm den Paß heraus. Die Lederimitation fühlte sich weich an. Das goldene Emblem und die Buchstaben – United States of America – blinkten mir entgegen. Ich öffnete ihn ehrfürchtig wie ein

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