Der Junge, der Anne Frank liebte
zum Wäschewaschen und um bei den Kindern zu bleiben, damit Madeleine zu ihren Wohltätigkeitstreffen oder zu ihren Einkäufen mit Mutter und Schwester gehen konnte. Gelegentlich machte sie sich auch fein und fuhr mit dem Zug nach New York, um ein Museum oder eine Matinee zu besuchen. Sie sagte immer, sie fühle sich schuldig, einen Nachmittag zu vergeuden, während ich hart arbeitete. Aber ich mißgönnte ihr kein Vergnügen. Im Gegenteil, ich war froh, daß ich es ihr ermöglichen konnte.
»Aber es ist einer von Frau Goralskis Tagen«, sagte ich. »Deshalb habe ich diesen Termin gewählt.«
Ich kam aus dem Schrank, mit einem selbstsicheren Lächeln, aber sie verpaßte es, weil sie sich gerade das Nachthemd über den Kopf zog. Ich fing einen Schimmer von honigfarbenen Gliedmaßen auf, von blassem Fleisch und dunklen Schamhaaren, bevor alles bedeckt war.
Zu Beginn unserer Ehe hatte ich Angst, den Körper meiner Frau zu betrachten. Bestimmt würde ich für solch ein Vergnügen bestraft werden. Ich war bis heute ganz ehrfürchtig. Meine Bewunderung hatte mit der schwellenden Schwangerschaft zu tun, aber es war mehr als das. Ich bewunderte ihre Weichheit und ihre Vollkommenheit. Sie war makellos. Sie hatte noch nicht einmal Löcher in ihren Ohren, wie ihre Mutter und ihre Schwester. Als ich dastand, nach dem flüchtigen Blick auf ihre Nacktheit, dachte ich wieder, wie viel besser es sein würde, wenn das Kind, das sie trug, ein Mädchen wäre.
Madeleine und ich saßen allein im Wartezimmer, abgesehen von der Sprechstundenhilfe, die, wie Harry sagen würde, ein steiler Zahn war. Ich schaute auf die Uhr. Der steile Zahn hatte uns gesagt, der Doktor würde sofort mit uns anfangen. Das war vor zehn Minuten.
»Wenn er einen Termin für zehn Uhr ausmacht, müßte er ihn auch halten«, murmelte ich Madeleine zu.
Sie schaute von ihrem Buch hoch, warf einen Blick hinüber zur Sprechstundenhilfe und beugte sich zu mir. »Es ist erst kurz nach zehn«, flüsterte sie.
»Zehn Uhr heißt nicht kurz nach zehn. Wo würde ich hinkommen, wenn ich Leute in meinem Büro so warten ließe?«
»Du bist nervös.«
»Ich bin nicht nervös, ich mag es nur nicht, wenn man mich warten läßt.«
»Vielleicht hatte er einen Notfall.«
»Oder es gefällt ihm, Leute warten zu lassen. Wahrscheinlich legt er mehrere Patienten auf denselben Termin. Das ist die Art, wie Ärzte Geld machen.«
Madeleine fing meinen Blick auf, dann nickte sie zur Sprechstundenhilfe hinüber, um mich zu warnen, daß sie uns hören könne.
»Aber so ist es doch.«
Sie wiederholte, daß ich nervös sei. Ich sagte, sie solle damit aufhören. Schließlich gab es keinen Grund, nervös zu sein.
Die Wartezimmertür öffnete sich. Ein anderer steiler Zahn, nicht ganz so hübsch, aber mit einer besseren Figur, was vielleicht nur die Wirkung einer Engel-des-ErbarmensUniform war, schaute sich im Raum um. Hatte er eine Menschenmenge erwartet? Sein Blick blieb an mir hängen. »Herr van Pels?«
Ich stand auf. Madeleine ebenfalls.
»Warte hier«, sagte ich.
»Möchtest du mich nicht zur moralischen Unterstützung dabeihaben?« fragte sie.
Ich sagte ihr, ich würde das prima allein schaffen.
»Nur bis er anfängt.«
»Bleib hier.«
Sie sah gekränkt aus, dann dachte sie an die beiden steilen Zähne. Meine Frau hat ihren Stolz. Sie bildet sich auch etwas auf ihren Sinn für Humor ein, vor allem in schwierigen Situationen. »Uff«, sagte sie und schaute von einem zum anderen mit diesem mütterlich wissenden Blick und dem Lächeln, das hieß, alle Männer sind tief in ihrem Herzen kleine Jungen, obwohl sie weiß, daß tief in mir nur wenig von einem kleinen Jungen übrig ist.
Ich ging durch das Wartezimmer und folgte dem Engel des Erbarmens durch den Flur. Sie führte mich in ein kleines Zimmer am Ende der Diele, gab mir ein weißes Gewand und sagte, ich solle alles oberhalb des Gürtels ausziehen und das Gewand anlegen. »Der Doktor wird gleich hier sein.«
Ich zog mein Jackett aus, die Krawatte, das Hemd und das Unterhemd, hängte alles an den Haken auf der Rückseite der Tür und schlüpfte in das Gewand. In der Ecke stand ein Stuhl mit einer geraden Lehne, und da war noch ein Lederstuhl auf Rollen. Es gab außerdem noch eine lange Liege, die mit einem weißen Laken bedeckt war. Ich wollte mich nicht auf die Liege setzen, deshalb nahm ich den Stuhl mit der Lehne. Ich schaute auf meine Uhr. Es war zehn Uhr
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