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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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fünfundzwanzig. Wenn ich mich nicht schon ausgezogen hätte, wäre ich gegangen. Ich war nicht nervös, wie Madeleine stur behauptet hatte, und ich hatte es mir auch nicht anders überlegt. Ich mochte es nur nicht, wenn man mich warten ließ. Das würde ich ihm auch sagen, wenn er kam.
     Die Tür ging auf. Der Doktor kam herein. Die Krankenschwester folgte ihm wie ein weißes Segel, gespannt vom Wind seiner Wichtigkeit. Ich sagte nichts. Ich wollte nicht mit dem Mann streiten, der gleich sein Messer in mein Fleisch setzen würde.
     Während er mich begrüßte, das erste schöne Herbstwetter, kommentierte und fragte, wie ich mich fühlte, wusch er sich die Hände, zog ein paar Gummihandschuhe über und überprüfte die Instrumente, die die Krankenschwester hinlegte. Wieder sagte er mir, daß es ein einfacher Eingriff sei. Und er wiederholte, es gebe keinen Grund der Welt für mich, mit solch einem Schandfleck herumzulaufen. Und er sagte, er habe diesen Eingriff schon Dutzende von Malen durchgeführt. Er saß auf dem schmalen schwarzen Lederstuhl und benutzte seine Füße, um näher zu mir her zu rollen.
     »Ich habe auch schon die andere Tätowierung entfernt. Ein faszinierender Fall, vor ein paar Jahren.« Er blickte von meiner Nummer zu dem Raum über meinem Kopf auf. »Eine Tätowierung auf der Innenseite des Oberarms.« Er hob die rechte Hand zur Innenseite seines linken Arms, um mir die Stelle zu zeigen. »Ungefähr so lang.« Er hob die Hand und hielt Daumen und Zeigefinger zwei, drei Zentimeter auseinander. »Ich nehme an, es war eine SS-Tätowierung.«
     Ich hatte vergessen, daß sie auch auf dem linken Arm war. SS und Gefangene, wir trugen die Kennzeichnung auf derselben Seite. Mein Schullatein kam zu mir zurück. Wir trugen sie auf der sinisteren Seite.
     Der Doktor rieb jetzt mit einem Tuch an meinem Arm, nicht über die Nummer, sondern oberhalb. Es fühlte sich erfrischend an, wie After-shave.
     »Soweit ich weiß, waren sie damals sehr praktisch.« Er nahm mit der linken Hand die Spritze von der Schwester. Er war also auch sinister. »Sie haben auch die Blutgruppe angegeben. Für den Fall, daß jemand verwundet wurde und eine Transfusion brauchte.« Er beugte sich über meinen Arm. »Ich habe alles vollständig entfernt.« Ich fühlte, wie die Spritze in mein Fleisch stach. »Keine Spuren. Keine Narbe. Nichts.« Ich beobachtete, wie die Flüssigkeit im Spritzenkolben sank. »Sie könnten den Mann heute am Strand sehen, Herr van Pels, und Sie hätten nicht den leisesten Verdacht, was er gewesen ist.« Er zog die Nadel zurück. »Wie ich immer sage, dafür ist die moderne plastische Chirurgie da. Wir radieren die Vergangenheit aus.«
     Ich spürte, wie sich ein seltsames Gefühl in mir ausbreitete.
     Ohne die Augen von meinem Arm zu nehmen, hielt er der Schwester wieder die linke Hand hin. »Natürlich habe ich das nur geraten.« Sie legte ihm ein Instrument in die Hand. »Er hat nicht gesagt, daß er ein SS-Mann war, und selbstverständlich habe ich das nicht gefragt.« Er grinste meine Nummer an. Der ehemalige Nazi war offenbar unser kleiner Privatwitz.
     Ich zog meinen Arm zurück.
     Er griff fester zu. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte er, ohne aufzuschauen. »Sie werden nichts spüren.«
     Ich zog wieder.
     »Sie müssen stillhalten, Herr van Pels.«
     Ich riß meinen Arm aus seinem Griff. »Ich habe meine Meinung geändert.«
     »Es ist nur ein kleiner Eingriff. Wie gesagt, Sie werden nichts spüren.«
     »Ich habe meine Meinung geändert.« Ich hatte nicht schreien wollen. »Ich will sie nicht entfernen lassen. Sie haben nicht das Recht, sie zu entfernen.«
     Er ließ das Skalpell sinken und stand auf. Er schaute mich direkt an, für einen Moment nur, aber lange genug, daß ich den Abscheu auf seinem Gesicht sehen konnte. »Es ist Ihre Entscheidung.« Er drehte sich um und verließ den Raum. Die Schwester flatterte hinter ihm her. Seine Worte drangen gerade noch an mein Ohr, bevor sich die Tür schloß.
     »Sehr unbeständig, diese Leute.«

    Ich bestand darauf, selbst nach Hause zu fahren. Madeleine argumentierte nicht, die wußte ja auch nicht, daß mein linker Arm taub war. Sie unterließ sogar jede Bemerkung darüber, daß ich mit einer Hand fuhr. Inzwischen war sie an solche Dinge gewöhnt. Aber als wir an Reklameschildern für Benzin und Zahnpasta und der Werbung von Gebrauchtwagenhändlern vorbeifuhren und ich aufs Gas trat, um ein Auto zu überholen, das vor mir

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