Der Junge, der Anne Frank liebte
hatte einen Sohn. Es gab nichts, was ich nicht für ihn und seine Schwestern tun würde. Es gab nichts, was ich ihrer Mutter nicht geben würde. Sie brauchte mich nur darum zu bitten.
Madeleine saß in ihrem Krankenhausbett, die kurzen Locken klebten ihr am Kopf, ihre Haut hatte einen ungesunden grünen Stich, aber das konnte auch ein Reflex der Krankenhauswände sein. Sie hatte schon besser ausgesehen, und ich liebte sie mehr denn je. Natürlich sagte ich das nicht. Niemand brauchte ihr zu sagen, wie sie nach einer Geburt aussah. Und sie wußte, daß ich sie liebte.
Ich ging quer durch den Raum zu ihrem Bett. Als sie sich mit den Händen abstützte, verzog sich ihr Mund zu einer Grimasse. Ich liebte sie wirklich mehr denn je. Sie rückte, um mir auf dem Bettrand Platz zu machen. Ich setzte mich und nahm ihre Hand. Ihre Haut fühlte sich so trocken an wie ein Papiertaschentuch. Ich beugte mich vor, um sie zu küssen. Sie roch medizinisch und milchig.
Sie fragte, ob ich David gesehen habe und ob er nicht das hübscheste Baby der Säuglingsstation sei, und ich sagte, ja, habe ich, und ja, ist er, und ich erwähnte nicht, daß ich an die Scheibe klopfen mußte, um eine Schwester dazu zu bringen, daß sie ihn hochhob. Ich wollte sie nicht beunruhigen. Und sie mochte es nicht, wenn ich Forderungen stellte, die sie für unbegründet hielt, obwohl ich nichts Unbegründetes daran finde, eine Schwester zu bitten, ein schreiendes Baby hochzuheben. Das ist ihr Job, um Christi willen.
»Der Kinderarzt war schon da«, sagte sie und lehnte sich zurück in die Kissen. »Er wollte wegen der Beschneidung Bescheid wissen. Ich sagte, ohne religiöse Zeremonie. Wir wollen eine medizinische Prozedur, die von ihm oder von einem seiner Assistenten gemacht werden solle.«
»Einem seiner Assistenten?«
»Manchmal wird es von Assistenzärzten gemacht. Für mich ist das in Ordnung. Solange es sich um einen ausgebildeten Arzt handelt. Ich werde nicht zulassen, daß jemand, der die Grundlagen der modernen Medizin nicht kennt, sich unserem Sohn mit einem Messer nähert. Egal, was meine Eltern dazu sagen.«
»Wir werden es diskutieren.«
»Das heißt, daß mein Vater schon mit dir gesprochen hat, nicht wahr? Aber da gibt es nichts zu diskutieren. Er ist unser Sohn, und du und ich sind uns einig. Keine religiöse Zeremonie.«
Wir waren uns über gar nichts einig, aber ich würde jetzt nicht mit ihr streiten. Sie war zu schwach und zu leicht erregbar.
»Ich meine, wir werden diskutieren, ob wir es überhaupt machen lassen«, sagte ich bloß.
»Was meinst du? Er muß beschnitten werden.«
»Warum?«
»Weil es das ist, was man heutzutage mit kleinen Jungs macht. Es ist eine übliche medizinische Praxis.«
»Das waren Blutegel auch mal.«
»Mach dich nicht lustig, Peter. In allen Büchern steht, daß es gesünder ist.«
»Ach so, in den Büchern.« Was wissen Bücher schon? Wo waren die Bücher, als die Männer durch die Waggons kamen und schrien, Hosen runterlassen, Hosen runterlassen?
»Der Kinderarzt hat es auch gesagt.«
»Der Kinderarzt heißt Caneglio.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Frau Caneglio geht jeden Sonntag zur Messe.«
»Ich kann dir immer noch nicht folgen«, sagte sie, obwohl ihre Augen schmaler wurden und ich das Gefühl hatte, daß sie mir sehr wohl folgen konnte.
»Dr. Caneglio muß sich keine Sorgen darüber machen, daß man seinen Sohn irrtümlich für einen Juden halten könnte.«
Ihr Kopf zuckte zurück, als hätte ich sie geschlagen. »Irrtümlich?«
»Du weißt, was ich meine.«
»Wenn du nicht willst, daß dein Sohn irrtümlich für einen Juden gehalten wird, hättest du mich nicht heiraten dürfen.«
»Ich dachte, wir wären einer Meinung. Keiner von uns beiden glaubt irgend etwas.«
»Ich rede nicht darüber, ob man irgend etwas glaubt. Ich rede darüber, jüdisch zu sein. Das bin ich nämlich. Was bedeutet, daß David halb jüdisch ist. Nach dem jüdischen Gesetz, das für mich aber keine Rolle spielt, wie Du weißt, ist er sogar ganz und gar jüdisch. Wenn die Mutter jüdisch ist, dann ist das Kind es auch. Es ist also ein bißchen zu spät, dir Sorgen zu machen, ob man deinen Sohn irrtümlich für einen Juden halten könnte.«
Warum habe ich ihr damals nicht die Wahrheit gesagt? Sie wäre erleichtert gewesen, nicht darüber, daß ich Jude war, sondern daß ich nichts von den anderen Möglichkeiten war, vor denen sie anfangs Angst
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