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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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Ich öffnete den ersten Umschlag. Die Zwanziger, Fünfziger und Hunderter, weder verdächtig neu noch abgegriffen, sondern vertrauenswürdig benutzt, waren nach Wert sortiert und von einem Gummiband zusammengehalten. Ich ging die Bündel durch, ich nahm das Gummiband vom ersten ab, zählte die Scheine, notierte in Gedanken die Summe, band sie wieder zusammen und ging zum nächsten über. Alles stimmte. Ich steckte die Bündel zurück in den Umschlag, schloß ihn und öffnete den zweiten. Er enthielt die gleiche Summe. Ich hatte die Scheine gleichmäßig verteilt. Ich begann zu zählen. Als ich fertig war, fehlten hundertsiebzig Dollar.
     Ich zählte noch einmal. Diesmal vermißte ich zweihundertzwanzig. Ich verstand es nicht. Kein anderer kannte die Kombination des Safes. Ich hatte sie Madeleine noch immer nicht gegeben, obwohl ich mir jetzt schwor, daß es das erste wäre, was ich am nächsten Morgen tun würde. Ein drittes Mal zählte ich das Geld. Nun waren es dreihundert mehr, als es sein sollten. Das war verrückt. Ich bin nicht schlecht mit Zahlen, aber ich konnte diese Scheine einfach nicht richtig zusammenzählen.
     Ich ging hinunter in die Küche, weil ich nicht riskieren wollte, ins Schlafzimmer zu gehen und Madeleine zu wecken. Ich nahm einen Block von dem kleinen Tisch in der Ecke und einen Bleistift aus dem Becher, den Abigail in der Schule gebastelt hatte, und stieg wieder hinauf zur oberen Diele. Der Anblick des offenen Wäscheschranks, der in Unordnung gebrachten Handtücher, des gähnenden Safes erschreckte mich. Die Unordnung hatte ich selbst gemacht, ich wußte, daß ich nicht ausgeplündert worden war, aber so sah es aus. Ich nahm den Umschlag, dessen Inhalt ich nicht hatte addieren können, schloß den Safe und ließ das Schloß einschnappen. Ich legte die Handtücher ordentlich aufeinander und machte die Tür des Wäscheschranks zu. Ich wollte mich auf das Zählen der Scheine konzentrieren können, und der Anblick des scheinbar ausgeplünderten Safes störte mich.
     Ich saß auf dem Fußboden, unter der Deckenlampe, mit dem Umschlag, einem Bleistift und einem Block. Ich wußte, daß es albern war. Das Geld konnte nicht verschwunden sein. Die Tatsache, daß ich jedes Mal etwas anderes herausbekam, bewies doch, daß der Fehler bei mir lag. Aber ich mußte ihn korrigieren. Wenn ich mir da nicht sicher war, worauf konnte ich mich dann verlassen?
     Wieder begann ich zu zählen. Diesmal schrieb ich gleich danach die Summe jedes Bündels auf. Ich hatte drei Bündel Zwanziger und eines mit Fünfzigern gezählt, als die Tür des Mädchenschlafzimmers aufging. Abigail stand im Türrahmen. Die Dunkelheit hinter ihr betonte die Umrisse ihres weißen Nachthemds und ihres schlafblassen Gesichts. Sie war ein geisterhaftes Negativ ihrer selbst.
     Sie blinzelte gegen das Licht und rieb sich mit der Faust über ein Auge. »Wasser«, sagte sie, das Wort endete in einem Gähnen.
     Ich stand auf. Wir gingen zusammen ins Badezimmer, ihre wirren Haare rieben sich an meinem Pyjama, als sie sich an mich lehnte. Vor dem Waschbecken hob sie den Kopf, um aus dem mit Gänseblümchen verzierten Plastikbecher zu trinken, und ihr Kehlkopf pulsierte wie ein schlagendes Herz. Sie wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab, und wir gingen wieder durch die Diele. Ihre kleinen rosafarbenen Füße traten auf die Geldscheine, die ich auf dem Teppich hatte liegenlassen. Sie schaute hinunter.
     »Was ist das?«
     Ich starrte ihr erhobenes Gesicht an. Es war eine verschlafene, dennoch eindringliche Frage. Sie war alt genug, um es zu erfahren. Kinder, die jünger waren als sie, hatten allein überlebt. Ich setzte mich auf den Boden, nahm ihre Hand und zog sie neben mich.
     »Das ist Geld«, erklärte ich ihr. »Geld, das ich zurückgelegt habe, für den Fall, daß wir irgendwann einmal weglaufen müssen.«
     Ihre Augen, auf mich gerichtet, waren schlafverklebt. »Weglaufen?«
     »Von hier weggehen. Woandershin.«
     »Warum?«
     »Manchmal müssen Menschen das tun. Dafür ist dieses Geld da, daß wir zusammen weglaufen können, Mommy und du und Betsy und David und ich, falls es einmal nötig sein sollte. Mein Daddy hat nicht vorausgedacht, aber ich tue es. Damit ihr keine Angst haben müßt.«
     »Wovor?«
     »Vor irgend etwas.«
     Sie nahm eine Hundertdollarnote und starrte sie verblüfft an.
     »Willst du mir helfen, das Geld zu zählen?«
     Ihr Kopf fiel nach vorn. Ich nahm es als Bestätigung.
     »Dann los. Ich

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