Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
Vom Netzwerk:
von Madeleines Eltern. Es war an einem Sonntagnachmittag. Susannah und Norman waren ebenfalls anwesend. Wir saßen um den Eßtisch, und die Kinder rannten hinaus und herein, an der Situation war nichts Ungewöhnliches. Sogar die Unterhaltung war vertraut. Meine Schwiegermutter versuchte meinen Schwiegervater zu überreden, sich den Schnurrbart abzurasieren.
     »Schau dir Norman an«, sagte sie.
     Wir alle wandten uns zu meinem Schwager.
     »Schau, wie hübsch und glatt er aussieht.«
     »Wie ein Babypopo«, sagte mein Schwiegervater.
     »Sogar Peter«, fuhr meine Schwiegermutter fort, mangels eines besseren Beispiels. Denn eigentlich betrachtete meine Schwiegermutter mich noch immer als Dieb, der ihre Tochter einem würdigeren Bewerber vor der Nase weggeschnappt hatte. Vielleicht hatte sie Angst, daß sich diebische Neigungen in meiner Familie vererbten. »Du wirst nie ein Haar in seinem Gesicht sehen.«
     »Ich bin zu alt für Veränderungen«, beharrte mein Schwiegervater.
     »Sag das nicht, Daddy«, sagte Susannah. »Übrigens ist es gerade das, was Mummy meint.« Meine Frau und ihre Schwester nennen ihre Eltern noch immer so, wie sie es als Kinder getan hatten. Ich hatte gedacht, sie würden damit aufhören, wenn sie selber Kinder hätten, aber da hatte ich mich geirrt. »Sie denkt, du würdest ohne Schnurrbart jünger aussehen.«
     »Du siehst, Susannah meint das auch«, sagte meine Schwiegermutter. »Ohne diesen grauen Schnurrbart würdest du fünf Jahre gewinnen. Vielleicht sogar zehn. Stimmt's, Norman?«
     »Fünf Jahre bestimmt«, sagte Norman. »Und wenn er ihn abrasieren würde«, sagte Madeleine, »wenn er eines Abends ohne ihn hereinkäme, würdest du doch bestimmt schreien, wer ist dieser fremde Mann in meinem Haus.«
     Im Moment, als Susannah sich auf die Seite ihrer Mutter geschlagen hatte, wußte ich, daß Madeleine ihren Vater unterstützen würde. Die ständig wechselnden Bündnisse in der Familie meiner Frau erstaunten mich noch immer. Sie streiten und verschwören sich und rangeln untereinander um Positionen, als gäbe es kein Morgen oder als wären sie sicher, daß es eins gab. Es schien ihnen niemals in den Sinn zu kommen, daß es für eine Versöhnung vielleicht einmal zu spät sein könnte.
     »Was ist mit dir, Peter?« fragte mein Schwiegervater. »Du bist der einzige, der sich noch nicht zu diesem Thema geäußert hat.«
     Alle drehten sich zu mir. Ich war ein Mitglied der Familie, auch wenn ich eigentlich keiner von ihnen war.
     »Ich bewundere Schnurrbärte«, sagte ich.
     Meine Schwiegermutter ließ ihre Blicke über den Tisch schießen. Ich habe oft gedacht, sie wäre ein hervorragender Offizier geworden.
     »Mein Vater hatte einen Schnurrbart«, fuhr ich fort.
     Mein Vater hatte nie einen Schnurrbart gehabt, ebensowenig wie meine Mutter blond gewesen war. Das lange, traurige Gesicht, dessen Ausdruck so schnell in Vergnügen oder Wut umschlagen konnte, war von der Spitze der beginnenden Glatze bis zum vorstehenden Kinn haarlos gewesen.
     Wir waren im Auto, auf der Heimfahrt, als mir einfiel, wie ich darauf gekommen war, so etwas zu sagen. Lou Jacobi, der Schauspieler im Film, derjenige, der das Brot gestohlen hatte, hatte einen Schnurrbart. Er war schwarz und borstig und sah, genaugenommen, ein bißchen so aus wie Hitlers Bärtchen.
     Der Vorfall an jenem Nachmittag, auf der Baustelle, war nicht wichtig, obwohl er mich damals erschreckte. Ich dachte, ich würde meine Sehfähigkeit verlieren, so wie ich vor Jahren meine Stimme verloren hatte. Ich ging durch die unfertigen Häuser, es war fast fünf, und die Arbeiter waren schon gegangen, aber Harry und ich wollten uns dort noch treffen. Eine Baumgruppe in einiger Entfernung, schwarz gegen den blassen Nachmittagshimmel, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Bäume ließen die Erde um mich herum noch kahler aussehen. Wenn wir mit den Arbeiten auf einem neuen Grundstück anfingen, walzten wir als erstes alles in Sichtweite nieder. Ich mochte das nicht, aber ich hatte irgendwann aufgehört, gegen Harry anzukämpfen. Du würdest dich wundern, wie wenig das den Leuten ausmacht, sagte er. Hauptsache, sie haben eine Einbauküche mit einem passenden Herd, ein Badezimmer mit zwei Waschbecken und ein Wohnzimmer mit einer Schiebeglastür vom Boden bis zur Decke, dann ist ihnen die Aussicht egal, die sie durch diese Tür haben. Es kümmerte sie nicht, ob sie Mimosen oder Kastanien oder Eichen oder ein gefurchtes kahles Land sehen.

Weitere Kostenlose Bücher