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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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die Wand des Wohnzimmers gelehnt, mit einem Küchenhandtuch über dem Rand des hellen Rahmens, damit die Wand nicht zerkratzt wurde. Ich hatte das Foto mit ausgesucht, aber es war das erste Mal, daß ich das fertige Produkt sah.
     »Es ist gut geworden«, sagte sie. »Findest du nicht?«
     »Sehr gut«, stimmte ich zu.
     Wir standen nebeneinander vor dem gerahmten Porträt. Unsere drei Kinder schauten uns an. Der Fotograf war einige Wochen davor zu uns ins Haus gekommen. Es sei kein einfacher Nachmittag gewesen, hatte Madeleine gesagt. David habe Theater gemacht, Betsy hatte sich erkältet. Die Auswahl des Fotos war dann auch fast genauso schwierig gewesen. Wenn Abigail hübsch aussah, hatte Betsy die Augen geschlossen. Wenn Betsy besonders gut gelungen war, schmollte David. Wir hatten uns letztlich für eine Aufnahme entschieden, die allen dreien am meisten gerecht wurde, obwohl das Bild nichts von Betsys Geist ausdrückte. Sie war sehr lebendig, meine Mittlere, und obwohl sie Madeleine und mich manchmal auf die Palme brachte, war ich froh darüber. Ich wollte nicht, daß eines meiner Kinder fügsam war. Nicht daß ich mir Unruhestifter gewünscht hätte. Sie sollten nur wissen, wann es Zeit war zu kämpfen und wann man sich besser zurückzog. Ich wünschte mir schlaue Kinder.
     Auf dem Foto waren sie in der richtigen Reihenfolge zu sehen, David lehnte sich an Betsy, Abigail hatte den Arm um Betsys Schultern gelegt. Auch der Rahmen paßte wirklich gut. Madeleine hatte einen halben Nachmittag in dem Geschäft verbracht, um ihn auszusuchen. Ich mußte nur noch das Bild über dem Sofa aufhängen.
     Ich legte den Arm um Madeleines Taille und betrachtete meine drei amerikanischen Kinder, die sauber geschrubbt und gut genährt in die Kamera lachten, als hätten sie von Geburt ein Recht auf Glück. Ich bin nicht abergläubisch, aber als ich so das Bild betrachtete, verstand ich die Bäuerinnen, die rote Bänder an ihren Kindern befestigen, um sie gegen den Blick des Teufels zu schützen, und die Angehörigen primitiver Stämme, die laut von der Häßlichkeit ihrer Sprößlinge sprechen, um die neidischen Götter zu täuschen.
     »Schöne kleine Teufel, nicht wahr?« sagte Madeleine.
     Ich hätte am liebsten gesagt, sie solle doch leiser sprechen.
     »Ich bin froh, daß ich mich bei Abigail für dieses Kleid entschieden habe.«
     Ein rotes Band hätte es nicht beeinträchtigt.
     »Ich wüßte nur gern, wo David diese Haare herhat«, sagte sie. »Weder von dir noch von mir. Du bist heller als ich, aber wir sind beide nicht blond genug, um so einen flachsköpfigen Sohn zu haben.«
    »Meine Mutter hatte blonde Haare.«
     Madeleine schaute erstaunt auf. »Das hast du mir nie erzählt«, sagte sie, als ob ich ihr überhaupt etwas über meine Eltern erzählt hätte.
     Ich zuckte mit den Schultern.
     »Ich wünschte, sie hätten ihre Großeltern kennenlernen können«, fuhr sie fort und drehte sich wieder zu dem Foto. »Sowieso natürlich, aber da ist noch etwas. Ich weiß, daß es dumm ist, weil ich deine Eltern nie kennengelernt habe, aber ich habe das Gefühl, ein zweites Großelternpaar, noch andere Großeltern, würde die Kinder, wie soll ich sagen, weniger engstirnig machen.«
     Ich antwortete nicht. Ich dachte an die Haare meiner Mutter. Sie waren dunkelbraun gewesen, mit grauen Strähnen, als ich sie das letzte Mal sah. Ich hatte keine Ahnung, warum ich gesagt hatte, sie sei blond gewesen, aber ich würde diese Aussage nicht zurücknehmen.

    Ich hatte die Haarfarbe meiner Mutter gefälscht. Aber das war kein Verbrechen. Im Lauf der Jahre verblassen Erinnerungen. Gott sei Dank tun sie das. Vielleicht wäre es anders, wenn ich Fotos hätte, obwohl auch die lügen. Ich erinnere mich an ein Foto, das im Schulhof von Osnabrück aufgenommen worden war. Neunjährige Jungen stehen in einer Reihe, jeder mit dem Arm über der Schulter des Nachbarn. Ich bin in der Mitte, einer der Größten der Gruppe, der Kräftigste, der mit dem gemeinen Gesichtsausdruck. Wenn man dieses Bild betrachtet, würde man sagen, was für ein Rowdy.
     Aber ich war nicht der Rowdy vom Foto. Die anderen Jungen hatten mich immer verhöhnt. Jude, hatten sie mich genannt, Itzik, Christusmörder. Deshalb sah ich so gemein aus. Weil ich wußte, ich würde weinen. Aber ich wollte nicht weinen. Diese Befriedigung gönnte ich ihnen nicht. Und ich tat es nicht. Oder doch? Wie kann ich mir da sicher sein?

    Es geschah wieder, eine Woche später, im Haus

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