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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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Jene Baumgruppe war nur noch dort, weil sie nicht auf unserem Grund stand.
     Die Bäume erinnerten mich an den Park am Ende der Hunzestraat, nicht weit von der Wohnung, in der wir gewohnt hatten, bevor wir verschwanden. So hatten unsere christlichen Nachbarn es wohl formuliert, falls sie sich überhaupt gefragt hatten, wo wir abgeblieben waren. Je weniger man über andere wußte, um so besser war es. Bevor es den Juden verboten wurde, öffentliche Parks zu betreten, angeblich aus Angst davor, sie würden mit ihrer Unsauberkeit die Bänke verschmutzen, waren meine Eltern dort gern spazierengegangen. Da stand ich nun in dem halbfertigen Haus und sah meine Mutter und meinen Vater unter den fernen Bäumen herumwandern. Sie kamen langsam auf mich zu, meine Mutter hatte ihre Hand unter den angewinkelten Arm meines Vaters geschoben, er hatte seinen vogelscheuchenartigen Körper zu ihr geneigt. Als sie näher kamen, erkannte ich die Zigarette, die ihm aus dem Mund hing. Sie trug ihren guten schwarzen Hut mit dem gerippten Band und der schmalen, flotten Krempe. Sie gingen durch ein Mosaik aus Licht und Schatten, bis wir uns fast gegenüberstanden. Das Gesicht meines Vaters war auf gleicher Höhe wie meines, obwohl ich seine Züge nicht erkennen konnte. Dafür war der Rauch zu dicht, der ihn umhüllte. Er legte den Kopf zurück, öffnete den Mund und stieß einen perfekten Rauchring aus. Das war der Vater, an den ich mich erinnerte.
     Ich wandte mich meiner Mutter zu. Sie war kleiner als mein Vater, und ich konnte ihr Gesicht unter ihrer Hutkrempe nicht sehen. Ich bückte mich, um unter ihren Hut zu schauen. Der Anblick ließ mich bis gegen die hölzernen Stützpfeiler zurückweichen. Es war wie in einem Horrorfilm. Das Gesicht meiner Mutter war eine Masse weißen Fleischs. Sie hatte keine Gesichtszüge. Sie war nichts.
     Ich sank auf den unfertigen Boden, lehnte mich mit dem Körper gegen den Pfeiler, zog die Beine an, legte das Gesicht auf die Knie und die Arme über den Kopf. Es war die Haltung, die ich früher einzunehmen hatte, wenn wir uns aus Angst vor Bomben auf den Boden kauerten.
     »He, Kumpel.«
     Die Worte drangen durch die Explosionen in meinem Kopf.
    »Bist du in Ordnung?«
    Er nahm mir die Arme vom Kopf.
    »Bist du in Ordnung, Kumpel?«
     Ich öffnete die Augen. Seine rotverschatteten Kiefer, die zu eng stehenden Augen, der kahle Kopf unter ein paar quer gekämmten, dunklen Haaren gerieten in mein Blickfeld. Noch nie war ich so froh gewesen, Harrys nicht gerade schönes Gesicht zu sehen. Es bewies mir, daß ich nicht dabei war zu erblinden.
     Ich hatte es mir nicht zur Gewohnheit gemacht, den Safe hinter dem Wäscheschrank zu öffnen und das Geld zu zählen, das ich dort versteckt hatte. Ich war kein Geizhals. Auch nicht »verfolgungsbedingt«, dieses deutsche Wort für jene traurigen pathologischen Zustände. Ich fand es nur beruhigend, ab und zu einmal nachzuschauen, ob auch alles in Ordnung war. Schließlich konnte man nie wissen, wann ein Notfall eintreten würde. Die Vision meiner Eltern in der Hunzestraat hatte mich daran erinnert. Und da ich Schwierigkeiten hatte, einzuschlafen, entschied ich, die Zeit sinnvoll zu nützen. Es brachte nichts, im Bett zu liegen und sich in den Schatten, die von den Bäumen vor dem Fenster an die Decke geworfen wurden, irgendwelche chaotischen Dinge vorzustellen. Wenn ich den Nachttisch anschaute, die Leuchtzeiger der Uhr, die langsam weiterkrochen, ging mir das auf die Nerven. Und wenn ich mich umdrehte, reizte mich der Anblick meiner schlafenden Frau, während ich nicht schlafen konnte. Sie lag auf der Seite, die Knie angezogen, mit dem Rücken zu mir. Ich hob vorsichtig die Decke an. Ihre Haut schimmerte wächsern im Mondlicht. Ihre Wirbelsäule zeichnete eine zarte Kontur. Wie leicht würde sie zerbrechen. Ich konnte das Knacken fast hören. Sachte deckte ich sie wieder zu, stieg aus dem Bett und verließ das Schlafzimmer. Ich war vorsichtig genug, die Tür zuzumachen, bevor ich das Licht in der Diele anknipste. Der Geruch nach frischgewaschener Wäsche schlug mir entgegen. Die Zahlen klickten ein, die Safetür schwang auf.
     Ich nahm den Paß heraus und überprüfte das Ablaufdatum. Ich wußte es auswendig, sah es aber gern schwarz auf weiß. Ich wäre jetzt nicht da, wo ich bin, wenn ich sorglos wäre. Ich legte den Paß zurück und nahm die Pappumschläge heraus. Inzwischen waren es nämlich zwei geworden, weil ich keine großen Scheine aufbewahren wollte.

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