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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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hatte er sich einlullen lassen. Und nicht nur er, wir alle hatten es getan. Unsere Vorfahren hatten ärgere Heimsuchungen ertragen müssen. Wenn es nicht schlimmer wird, können wir überleben. Sie werden früher oder später schon wieder zur Vernunft kommen. Alles, was wir tun müssen, ist abzuwarten. So waren wir von Osnabrück nach Amsterdam gezogen, und von der Wohnung an der ZuiderAmstellaan zum Hinterhaus an der Prinsengracht 263, und schließlich vom Hinterhaus zum Durchgangslager Westerbork. Und noch immer versuchte er, sich selbst etwas vorzumachen, vielleicht auch nur meiner Mutter und mir. Sogar als wir unsere Namen für den Transport in den Osten hörten und jeder wußte, was das bedeutete, versuchte er es. Van Pels, schrie der Offizier, als sie am Buchstaben P angekommen waren. Es war das Bellen eines tollwütigen Hundes. Hermann. Wir hielten die Luft an. Auguste. Meine Mutter begann zu weinen. Peter. Zumindest bleiben wir zusammen, sagte mein Vater, aber er schaute mich bei diesen Worten nicht an. Er hatte mich nicht gerettet, wie Pfeffer seinen Sohn gerettet hatte. Und später habe ich ihn nicht gerettet.
     Ich saß auf dem Bahnsteig. Meine Beine baumelten ein ganzes Stück über den Schienen. Es war nicht mehr als ein Sprung. Abigail würde stocken, aber Betsy würde es leicht nehmen. Ich überlegte, was mit David wäre, und stellte ihn mir mit sieben, zehn und dreizehn vor. Würde Madeleine ihm eine Bar-Mizwa machen? Ich nahm es nicht an. Ihre Familie wird Druck auf sie ausüben, aber sie wird standhaft sein. Sie wird sagen, Peter hätte es nicht gewollt. Sie wird die Geheimnisse und Lügen und den Ärger vergessen, sie wird sogar vergessen, was ich damals gesagt hatte, nämlich daß ich nicht wolle, daß man David irrtümlich für einen Juden hält; sie wird sich nur noch daran erinnern, wie sehr ich sie und die Kinder geliebt hatte. Sie wird mit den Kindern über mich sprechen. Daddy hat dies gesagt, Daddy hat jenes gedacht. Daddy hätte gewünscht, daß ihr das und das tut. Ich würde in den Geschichten über mich ein besserer Mensch sein, als ich es im Leben war. Wie Anne würde ich nach meinem Tod heiliggesprochen werden. Es war seltsam, daß es dieses Tagebuch, wäre sie am Leben geblieben, nicht gegeben hätte.
     Es wurde langsam heller. Die öligen Schienen blinkten im grauen Licht zu mir herauf. Ich lehnte mich weiter vor und hörte schon das Quietschen von Bremsen. Frauen würden weinen. Männer würden schreien. Der Zugverkehr würde in beiden Richtungen für Stunden gesperrt sein. Die Leute würden nicht zu ihren Arbeitsplätzen kommen. Männer würden Konferenzen verpassen. Frauen würden ihren Einkaufstag und das Mittagessen versäumen. Ich würde all diesen Ignoranten als Anlaß dienen, um darüber nachzudenken, wie hart das Leben sein kann.
     Wieder hörte ich Bremsen quietschen, doch diesmal war das Geräusch hinter meinem Rücken. Eine Autotür wurde zugeschlagen.
     »Peter!« Madeleines Schrei zerriß die Luft. Aber natürlich bildete ich mir auch das nur ein. Sie schlief noch in dem schwachen Licht des Weckers, das noch dazu durch ein Stück Papier mit der Safekombination verdeckt wurde.
     Ich stützte mich auf dem Bahnsteig ab, bereit, mich nach vorn zu werfen. Die Arme um meinen Nacken waren ein tödlicher Griff. Ich hatte gar nicht gewußt, daß meine Frau so stark war. Sie riß meinen Oberkörper zurück. Mein Kopf schlug auf den Bahnsteig. Sie zerrte meine Beine hoch, rollte mich von der Kante weg und warf sich über mich. Ein starker Mann hätte mich nicht so fest auf den Boden drücken können, wie sie es tat.
     »Was ist das?« Sie hielt mir den Zettel mit der Safekombination vors Gesicht. »Was, zum Teufel, soll das da sein?«
     Ich sagte, das sei die Kombination des Safes. »Für den Fall, daß mir etwas passiert.«
     »Für den Fall«, schrie sie. »Für den Fall!«
     Inzwischen waren die Kinder aus dem Auto geklettert, obwohl Madeleine ihnen bestimmt gesagt hatte, sie sollten auf dem Rücksitz bleiben. Sie standen oben an der Treppe zum Bahnsteig, Abigail hielt Davids Hand, Betsy hatte den Daumen im Mund, obwohl wir ihr diese Babyangewohnheit schon vor Jahren abgewöhnt hatten. Sie zitterten in ihren Sommerpyjamas. Ich hatte sie vor mir schützen wollen. Ich konnte sie noch nicht einmal vor einem kühlen Frühlingsmorgen schützen.

SECHZEHN

    Die Biographie eines Mannes ist auch Geschichte.
    »Die amerikanische Geschichte von
    Anne Franks Tagebuch« von

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