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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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Liebe, Peter

    Ich lehnte den Zettel an den Wecker. Sie würde ihn sehen, sobald sie die Augen aufmachte.

    Der Bahnhofsparkplatz war leer. Für Pendler war es noch zu früh, aber bestimmt kam ein Frühzug, ein Expreß, der irgendwelche wichtigen Leute zwischen New York und Philadelphia und Washington hin und her transportierte. Ich würde nicht lange warten müssen.
     Ich fuhr auf einen Platz in der Nähe des Bahnsteigs und machte den Motor aus, ließ aber den Schlüssel stecken. Das Auto stand Richtung Osten. Ich hatte mich für die südliche Bahnhofsseite entschieden. Am Horizont lag ein dünner hellgrauer Streifen Morgenlicht. Die Wettervorhersage hatte recht. Es würde heute ein trüber Tag werden. Die Vorstellung gefiel mir. Plötzlicher Sonnenschein wäre mir zu grausam vorgekommen.
     Ich nahm das Foto aus meiner Tasche. Meine Kinder schauten mich an. Sie lächelten nicht so breit, wie ich gedacht hatte, als ich das Bild zum ersten Mal sah. Abigails Augen waren verschattet. Mir war auch nicht aufgefallen, daß Betsy die Hände zu Fäusten geballt hatte. David sah aus, als würde er gleich weinen. Sie wußten, daß das Leben kein Zuckerschlecken war. Ich konnte sie nicht davor bewahren, aber ich konnte sie vor mir schützen. Ich steckte das Foto zurück in die Tasche und stieg aus dem Auto. Vor Jahren, als ich hierhergekommen war, um das Tagebuch loszuwerden, war ich zum Bahnsteig gerannt, sicher, meiner Vergangenheit entkommen zu können. Ich hätte wissen müssen, daß sie mich einholen würde.
     Ich ging auf die Treppe zu, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern. Schlurfend wie ein alter Mann. Ich ging wie mein Vater, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, wann immer das auch war, damals, als ich nichts unternommen hatte, um ihn zu retten. Du denkst, du kannst deine Hände in Unschuld waschen, was uns betrifft, deine Mutter und mich, hatte er mir in jener Nacht, als mein Sohn geboren worden war, aus dem Fenster entgegengeschrien. Der Angriff war berechtigt gewesen, obwohl ich ihn zurückgewiesen hatte. Aber ich würde es jetzt wiedergutmachen. Nicht daß ich an ein Leben nach dem Tod glaubte.
     Ich hielt mich am Geländer fest, als ich die Stufen zum Bahnsteig hinaufstieg. Meine Beine waren schwer.
     Erschöpfung lastete auf meinen Schultern und ließ meine Hand zittern. Vor vielen Jahren hatte der Doktor unrecht, was die Tremores betraf. Sie waren nicht psychosomatisch gewesen. Aber er hatte recht, was mich anging. Ich konnte draußen nicht existieren.
     Ich erreichte das Ende der Treppe und ging über den Bahnsteig. Nur ein einziges Mal war ich mit meinen Kindern mit dem Zug gefahren. Wir waren Amerikaner. Wenn wir verreisten, nahmen wir das Auto. Damals, als wir auf dem Bahnsteig warteten, hatte Abigail dicht neben mir gestanden, aber Betsy hatte mit der Gefahr geflirtet. Immer wieder war sie zum Bahnsteigrand gelaufen, zu den Gleisen. Komm her, hatte ich ihr mehr als einmal zugerufen. Schließlich hatte ich sie an die Hand genommen und sie festgehalten, bis der Zug kam.
     Die Gleise zogen sich in die Ferne wie die Nähte einer riesigen Wunde. Ich hatte eine kurze Hose getragen, als wir mit dem Zug von Osnabrück nach Amsterdam gefahren waren. Der rauhe Plüsch des Sitzes hatte mich unter den Oberschenkeln gekratzt. Hör auf zu zappeln, hatte mein Vater mich angeschnauzt. Seine Nerven lagen blank. War es klug, alle Zelte abzubrechen und in einem anderen Land neu zu beginnen, mit einem Kind und mit einer Frau, die nicht weggehen wollte? Er war Niederländer von Geburt, hatte aber sein ganzes Leben in Deutschland verbracht. War es anständig, seinen alten Vater zurückzulassen? Er war ein pflichtbewußterer Sohn als ich. Hör auf zu zappeln, hatte er mich angeschnauzt, und meine Mutter hatte den Korb aus dem Gepäcknetz geholt und ein Stück ihres wunderbaren Sandkuchens herausgeholt.
     In dem nächsten Zug hatte es keinen Sandkuchen gegeben, obwohl es meinem Vater gelungen war, einen Kanten Brot zu ergattern, Brot, das wir uns dann teilten. Inzwischen machte er sich keine Gedanken mehr darüber, ob seine Entscheidung richtig gewesen war, sondern quälte sich damit, so viel falsch gemacht zu haben. Wieso hatte er nicht vorausgesehen, was kommen würde? Er hätte wissen müssen, daß die verbotenen Parkbänke, der gelbe Stern und das Zusammenschlagen alter Männer auf der Straße nur die ersten Anzeichen waren. Aber die Einschränkungen waren allmählich gekommen, eine nach der anderen, dadurch

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