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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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auf meinem Kopf seltsam anfühlte, und hängte mir einen Gebetsschal um die Schultern. Der Stoff schickte eine Wolke von Staub in die Luft, die Staubkörner tanzten in dem Sonnenstrahl, der durch das Fenster fiel. Dann drückte er mir ein schwarz eingebundenes Gebetbuch in die Hand. Ich sagte ihm, ich könne es sowieso nicht lesen.
     Er schüttelte den Kopf. »Wir haben einen Pedanten dazubekommen. Ich habe dich gefragt, ob du Jude bist, du hast gesagt, du bist ungläubig. Ich gebe dir ein Buch, und du sagst zu mir, du kannst nicht lesen. Wer hat etwas von Lesen gesagt? Steh auf, und laß dich zählen, das ist alles, was wir von dir erwarten.«
     Die acht anderen Männer traten zu uns. Ich machte einen Schritt zurück. Er streckte eine sommersprossige Hand aus und zog mich wieder näher. Sie begannen zu beten. Es war genau wie beim letzten Mal. Ich verstand kein Wort. Ich ließ mich nicht auf den Rhythmus ein. Alle um mich herum beugten die Knie, wiegten ihre Körper nach vorn, verneigten sich, nur ich stand aufrecht und steif da. Einmal, gegen Ende, beugten sich meine Knie für einen Moment, und in diesem Bruchteil des Erinnerns war ich wieder in der Synagoge der jüdischen Gemeinde in Osnabrück, stand neben meinem Vater, spielte mit den Fransen des Gebetsschals, in den ich hineingewachsen sein würde, wenn ich erst mal dreizehn war. Aber das geschah nicht. Als ich dreizehn war, hatten wir Osnabrück verlassen und waren in Amsterdam. Als ich dreizehn war, konnte es sich keiner mehr leisten, ein Jude zu sein.
     Ein vielstimmiges Amen erhob sich zur Decke, wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel. Sie wären eine leichte Beute gewesen. Ich nahm den Gebetsschal und die Gebetsriemen ab, legte sie auf eine der Holzbänke und ging den Gang entlang, aber der Rothaarige war schneller als ich.
     »Was hat dich so lange ferngehalten?« fragte er, während er neben mir hertrottete.
     Ich gab ihm keine Antwort.
     »Es waren viele Tage, die wir hätten nutzen können. Kein Minjan, kein Beten.«
     Ich wandte mich zu ihm. »Warum?«
     »Was meinst du mit warum? Zehn Männer machen einen Minjan. Man braucht einen Minjan, um zu beten. So ist das Gesetz.«
     »Aber warum? Wer hat das Gesetz gemacht? Wer hat es niedergeschrieben? Ich weiß von den Zehn Geboten und den Erzvätern. Ich weiß, wie staatliche Gesetze entstehen. Aber welche Autorität sagt, man braucht zehn Männer zum Beten? Sag jetzt ja nicht, Gott.«
     »Sind wir wieder bei Gott und dem Glauben?«
     »Ich will wissen, wer sagt, daß neun Gläubige nicht besser sind als neun Gläubige und ein Apostat wie ich?«
     »Apostat?«
     »Ein Abgefallener.«
     »Ich weiß, was das Wort heißt. Hübscher Einfall. Wie eine große Kathedrale mit bunten Glasfenstern.«
     »Oder warum reicht nicht einer? Was, wenn ich allein herkomme und allein beten will?«
     »Du willst gar nicht mit uns beten. Du willst allein beten?«
     »Was wäre, wenn ich es wollte?«
     »Du bist willkommen.«
     »Du meinst, ich würde die neun anderen Männer nicht brauchen?«
     »Nur für ganz bestimmte Gebete.«
     »Aber warum? Das ist es, was ich wissen möchte.«
     »Wenn du Hebräisch verstündest, würdest du es wissen. Auf hebräisch heißt es nicht, ich bete, sondern wir beten.«
     »So?«
     »So, wenn du betest, sagst du wir, das heißt, du bist nicht allein. Du übernimmst Verantwortung für andere Menschen. Es heißt als Antwort auf Kains Frage, ja, du sollst.«
     »Meines Bruders Hüter sein?«
     »Bruder, Vater, Sohn, Cousin zweiten Grades, der Kerl nebenan, der noch nicht mal mit dir verwandt ist.«
    »Und was ist, wenn alle tot sind?«
     »Tot, lebendig, was spielt das für eine Rolle? Du hast noch immer Verpflichtungen.«
     »Kommst du deshalb her?«
     Er zuckte mit den Schultern und lächelte. »Weißt du einen besseren Grund?«
     Er grinste mich weiter an. Seine beiden Schneidezähne – ich hätte gewettet, daß sie die Arbeit eines D.-P.-Lager-Dentisten waren – strahlten wie zwei Leuchtfeuer in einem Mund voller gelber Zähne. Seine wilden roten Haare waren wie ein brennender Busch. Was zum Teufel tat ich hier? Der Mann kam hierher, weil er sonst keinen Platz hatte, wo er hingehen konnte. Er kam, weil er Angst hatte, es nicht zu tun. Aber ich lebte in einer anderen Welt. Ich hatte keine Angst. Außer zur Zeit.
     »Was ist denn, Mr. Schlaukopf, der alles über die Erzväter weiß, und ich spreche nicht über Abraham, Isaak und Jakob. Außerdem tust du so, als

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