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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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legt, um sein Geschrei zu unterdrücken, damit die SS es nicht hört, und fühlt, wie der Körper des Babys in ihrem Arm schlaff wird. Der Vater, der ein schreiendes Baby erstickt, um zwei andere Kinder zu retten. Aber ich würde nicht an diese Geschichten denken.
     Ich beugte mich über das Bettchen, in jeder Hand ein Messer. »Sei ruhig«, zischte ich.
     Mein Sohn schaute mich an. Das Geräusch hörte auf. Schlafverkrustete Lider blinzelten über tintenblauen Augen. Ich hielt die Luft an. Er blinzelte wieder. Ich atmete aus. Er öffnete den Mund. Der Schrei ließ die Wände erzittern. Ich langte ins Bettchen. Das Licht, das durch das Fenster hereinfiel, wurde vom Tranchiermesser reflektiert, glänzend und silbern wie ein Spielzeug. Der Blick meines Sohnes fiel darauf. Er streckte die Hand danach aus. Ich zog es weg. Er schrie. Die Klingel schrillte laut. Das Messer baumelte über ihm. Er brüllte und streckte seinen schmalen, wütenden Körper in Richtung Messer. Ich zog es von ihm weg. Wieder klingelte es. Diesmal länger. Dieser Schweinehund nahm den Finger nicht runter. Und David schrie immer lauter. Ich hob das Messer hoch über das Bettchen.
     Das Klingeln hörte auf. Mein Sohn blinzelte. Sein Mund schloß sich. Das Haus schauderte in der Stille.
     Ich spürte etwas über dem Kinderbettchen, ein glitzerndes Mobile. Ich schaute auf und sah das Messer in meiner Hand. Ich zog den Arm zurück, ließ das Messer auf den Boden fallen, dann bemerkte ich das Messer in meiner anderen Hand und ließ es ebenfalls zu Boden fallen. Ich langte in das Bettchen und hob meinen Sohn heraus. Ich hielt ihn noch immer auf dem Arm, als ich hörte, wie Madeleine das Auto in die Garage fuhr. Ich nahm beide Messer in eine Hand, trug sie und David hinunter in die Küche und legte sie zurück, sorgfältig darauf bedacht, sie in die richtigen Schlitze zu schieben. Madeleine würde nie wissen, daß ich sie herausgenommen hatte.
     Auf meinem Weg aus der Küche bemerkte ich einen Umschlag, der unter der Tür durchgeschoben worden war. Noch immer mit meinem Sohn auf dem Arm, bückte ich mich, hob den Umschlag hoch und riß ihn auf. Unser örtlicher Polizeisportverein bat um eine Spende.

FÜNFZEHN

    Ich fühle mich schlecht, weil ich in einem warmen Bett liege,
    während meine liebsten Freundinnen irgendwo draußen
    niedergeworfen werden oder zusammenbrechen.
    Anne Frank, Tagebuch, 19. November 1942

       Ich frage mich immer wieder, ob es nicht besser für uns alle gewesen wäre, wenn wir
    nicht untergetaucht wären,
    wenn wir nun tot wären und
    dieses Elend nicht mitmachen müßten.
    Anne Frank, Tagebuch, 26. Mai 1944

    Ich wachte plötzlich auf. Auf dem Nachttisch schnitten die Leuchtzeiger der Uhr ein kleines Stück aus der schwindenden Nacht. Fünf Uhr zwanzig. Ich drehte den Kopf. Madeleine schlief, wie sie es in diesen Tagen immer tat, mit dem Rücken zu mir, die Knie angezogen, die Arme tröstend um sich selbst geschlungen. Träumte sie von einem jungen Mann, der in das Haus ihrer Eltern kam und Sprachen sprach, die sie nicht verstand, und Dinge sagte, bei denen sich der Rest ihrer Familie die Ohren zuhalten würde, der Botschaften aus einer größeren Welt brachte, die zu betreten sie sich so sehnte? Es wäre hübsch zu denken, daß es ein Reich gäbe, wo ich sie noch immer glücklich machte.
     Ich hob die Decke an. Der Anblick ihrer Wirbelsäule erschreckte mich nicht. Ich fühlte mich so ruhig wie schon lange nicht. Ich fürchtete mich nicht mehr davor, was ich ihr und den Kindern antun könnte. Ich wußte, wie ich sie vor mir schützen konnte.
     Ich stieg leise aus dem Bett. Im Schrank tastete ich nach einer Khakihose und schlüpfte in meine Mokassins. Ich öffnete eine Schublade der Kommode, nahm ein Polohemd heraus und zog es über den Kopf. Ich steckte meine Autoschlüssel und die Brieftasche ein, dann überlegte ich es mir anders, holte aus der Brieftasche meinen Führerschein heraus, auch die kleine Aufnahme von den Kindern, dieselbe wie das große Foto über dem Sofa, und schob diese beiden Dinge in die Tasche. Den Führerschein würde ich für die Identifikation brauchen, und das Foto von meinen Kindern wollte ich einfach dabeihaben. Nun blieb mir nur noch eines zu tun.
     Ich ging zurück zu meiner Bettseite, und in dem schwachen Licht des Weckers kritzelte ich eine Notiz.

    Madeleine, Liebe,
    die Kombination des Safes ist achtmal nach rechts, viermal nach links, sechsmal nach rechts. Küsse die Kinder von mir. In

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