Der Junge, der Anne Frank liebte
Judith E. Doneson in
Anne Frank. Reflections on Her Life and Legacy, hg. von Hyman A. Enzer und Sandra Solotaroff-Enzer
Madeleine erzählte ihrer Familie nichts von dem Vorfall am Bahnhof. Sie war loyal zu mir. Sie war auch zu stolz, um es zu sagen. Aber sie bat mich, wieder zu Dr. Gabor zu gehen. Ich sagte, das sei nicht nötig, die Episode am Bahnhof sei ein Ausrutscher gewesen.
»Ein Termin, Peter. Bitte. Eine einzige Stunde kann nicht schaden.«
»Ich habe dir gesagt, daß es nicht mehr vorkommt.«
»Nur um mich zu beruhigen.«
»Es ist nicht notwendig.«
»Dann den Kindern zuliebe.«
»Verdammt, Madeleine, was versuchst du da? Willst du mich zum Bahnhof zurückjagen?«
Ihr Gesicht zerbröckelte. Ich hatte sie in die Ecke getrieben.
»Ich brauche Dr. Gabor nicht«, sagte ich sanft. Was ich damit meinte, war, daß er mir nicht helfen konnte. Psychiater kennen keine Heilung für Killerinstinkte.
Ich konnte meine Töchter abends nicht zudecken, aus Angst, sie zu ersticken. Ich konnte meinen Sohn nicht hochheben und herumwirbeln, damit er vor Vergnügen schrie, denn ich könnte ja die Kontrolle verlieren und ihn an die Wand werfen. Autofahren war am schlimmsten. Hinter einem Lenkrad zu sitzen, mit den Kindern auf dem Rücksitz, war für mich eine Achterbahn mörderischer Panik. Mein Fuß auf dem Gaspedal wurde schwer. Meine Arme verkrampften sich bei dem Gedanken, ich könnte das Steuer herumreißen. Ich sah das Auto in den Gegenverkehr rasen. Ich stellte es mir vor, wie es eine Brücke hinunterstürzte. Eisenträger zersplitterten, Wind drang durch die Fenster, Wasser schloß uns ein. Die Haare meiner Töchter flossen um ihre erstaunten Gesichter. Die kleinen, kräftigen Beine meines Sohnes strampelten im schwarzen Wasser. Ich kämpfte darum, sie zu retten, aber die Strömung zog sie aus meiner Reichweite. Ich hatte gedacht, jene Nacht in der Scheune sei eine Ausnahme gewesen. Jetzt wußte ich, daß es Bestimmung war. Ich hatte einmal getötet. Ich würde es wieder tun.
Vor Jahren hatte ich gesagt, ich würde zurückkommen, und hatte gewußt, daß ich log. An den Mann mit den Sommersprossen, den seine feuerroten Haaren vielleicht gerettet hatten oder auch nicht, dachte ich nur wie an einen Fehler, den ich nicht gemacht hatte. Er war der Fußgänger, dem ich rechtzeitig ausgewichen war, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Ein herunterfallender Gegenstand, der mich nicht getroffen hatte. Die Bananenschale, auf der ich nicht ausgerutscht war. Er war die Welt, die zu betreten ich mich geweigert hatte. Er war der andere Mann, zu dem ich nicht geworden war. Deshalb verstand ich mich selbst nicht, als ich in der Straße mit den Schlaglöchern nach einem Parkplatz suchte, in diesem heruntergekommen Viertel, in dem es so viele Jahre nach dem Krieg noch nach Paranoia roch. Die frühe Morgensonne beleuchtete jedes heruntergezogene Rollo und jede verriegelte Tür mit ihrem grellen Licht.
Das steinerne Gebäude der Synagoge stand da wie ein gebeugter alter Mann, der der Welt den Rücken zugekehrt hat. Ich drückte die Tür auf und trat ein. Die feuchte Luft roch noch immer nach ranzigem Essen und etwas ebenso Unangenehmem, wenn auch weniger Konkretem. Wäre ich ein Romantiker, hätte ich gesagt, das sei der Geruch der Verzweiflung. Ich sagte mir, ich sollte mich umdrehen und wegrennen, solange ich das noch konnte. Vor Jahren hatte ich hier nichts gefunden. Jetzt würde ich bestimmt auch nichts finden. Ich ging den Gang entlang.
Der rothaarige Mann war nicht da. Keiner der Männer kam mir bekannt vor, das heißt, sie taten es alle. Gebeugt unter ihren Gebetsschals und mit den angelegten Gebetsriemen sahen sie alt aus, egal, wie alt sie waren, und man erkannte sofort, wer sie waren und woher sie kamen.
Es waren acht Männer. Diese Zahl befreite mich. Sogar wenn ich blieb, würde es keinen Unterschied machen. Es würde ihnen immer noch einer für die erforderliche Anzahl fehlen. Warum überhaupt zehn? Warum nicht ein Dutzend oder, was viel einfacher wäre, ein Triumvirat? Was für ein biblischer Weiser oder Talmudgelehrter hatte entschieden, daß Gott dem Dezimalsystem anhing?
Ich drehte mich um und wollte den Gang zurückgehen. Er kam auf mich zu. Ich hatte gewußt, daß er da sein würde. Männer wie er ziehen nicht um.
»So, Mr. Yankee Doodle Dandy«, sagte er, als er mich am Arm nahm und durch den Gang führte. »Lange nicht gesehen.«
Er gab mir eine Kipa, die sich
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