Der Junge, der Anne Frank liebte
wärst du ein Goj.«
»Wie kommst du darauf?«
»Das letzte Mal, als du hier warst, habe ich dich beobachtet. Du hast eine Autonummer aus Jersey. Man fährt nicht einfach in einen anderen Staat, um zum Bethaus zu gehen, es sei denn, man hat was zu verbergen. Da konnte ich mir leicht ausrechnen, daß das Verbergen dich überfordert. Deshalb bist du hierhergekommen.«
»Ich verberge nichts. Ich habe mich entschieden. Ich habe ein neues Leben angefangen.«
»Masel tow. Nun, ich frage noch einmal, was tust du hier?«
Die Sonne schoß durch seine roten Haare. Ich mußte im Gegenlicht blinzeln.
»Hast du je von Anne Frank gehört?«
»Kennst du jemand, der es nicht hat?«
»Ich bin Peter van Pels. Van Daan im Tagebuch.«
Ich wartete auf das ungläubige Grinsen. Alle paar Jahre tauchte jemand auf und behauptete, die Zarentochter Anastasia zu sein. Und es gab noch immer Frauen, die behaupteten, Rudolph Valentino gesehen zu haben. Und Houdinis fand man wie Sand am Meer.
»So?«
»Du glaubst mir?«
»Warum sollte ich dir nicht glauben? Die Welt ist voll von Nazis, die nie welche waren. Warum sollten nicht ein paar Juden durchgekommen sein?«
»Nicht jeder sieht das so.«
»Hast du eine Meinungsumfrage gemacht?«
»Die ganze Welt denkt, ich wäre tot, und Pfeffer wäre ein Idiot gewesen und mein Vater ein Dieb.«
»Jetzt kapiere ich nichts mehr.«
»Im Theaterstück und im Film.«
»Ich bin kein großer Theaterbesucher.«
»Mein Vater hat nie Brot gestohlen. Aber im Theater und im Kino lassen sie ihn Brot stehlen. Weißt du, warum? Damit sich das Publikum nicht langweilt. Wir haben die Grüne Polizei im Nacken, und die guten holländischen Bürger sind bereit, uns für sieben Gulden fünfzig Kopfgeld zu verraten. Die Nazischweine, denen Geld egal ist, die es fürs Vergnügen tun, reichen nicht aus, um die Zuschauer auf ihren Stühlen zu halten. Sie haben es nötig, daß mein Vater mir das Brot wegißt.«
»Und?«
»Es macht mich verrückt, daß ich nichts daran ändern kann.«
Er schüttelte den Kopf. Der brennende Busch zitterte in der naßkalten Luft. »Jetzt verstehst du die Sache mit dem Minjan.«
Ich mietete mir ein Postfach in der Nachbarstadt. Ich wollte nicht, daß mich ein Bekannter sah, wenn ich auf ein Postamt ging, um Briefe abzuholen. George Johnson zum Beispiel würde glauben, ich hätte ein Geheimnis, entweder eine Liebschaft oder etwas Finanzielles. Der Mann hinter dem Postschalter nahm mein Geld, gab mir einen Schlüssel und einen Papierstreifen mit einer Zahlenreihe. Ich war wieder eine Nummer.
An diesem Abend schloß ich meine Bürotür ab und setzte mich an den Schreibtisch, um den Brief zu schreiben.
Herrn Otto Frank
Herbstgasse 11,
Basel, Schweiz.
Ich sei nicht daran interessiert, Wiedergutmachung oder Tantiemen oder Anerkennung zu bekommen, erklärte ich ihm. Alles, was ich verlangte, sei die Wahrheit, die er und ich kannten. Er war berühmt. Wenn er etwas sagte, hörten die Leute hin. Er hatte gerade die Anne-Frank-Stiftung gegründet. Nun war sie ein Institut, ebenso wie eine Legende und eine Heilige. Meine Hand flog über das Papier. Gerechtigkeit, schrieb ich, und Anstand, Bewußtsein und Ehre. Der Ruf eines Mannes, das Leben eines Mannes. Ich forderte eine Aktion.
Wenn ich jetzt daran zurückdenke, weiß ich nicht, was ich erwartete. Was hätte Otto Frank tun sollen? Leute anstellen, die vor den Theatern mit Plakaten auf Bauch und Rücken herumliefen, auf denen stand, man dürfe diesen Film nicht für wahr halten? Anzeigen in die Zeitung setzen, die verkündeten, Hermann van Pels sei kein Dieb gewesen? Es gab einen Mann, der tatsächlich eine Klage gegen Otto eingereicht hatte, der tatsächlich eine Anzeige in die Zeitung gesetzt hatte. Diese Anzeige hatte ich gesehen, ich hatte auch von dem zu erwartenden Gerichtsverfahren gelesen. Es war eine schmutzige Geschichte, und ich hatte nicht die Absicht, mich da hineinziehen zu lassen. Aber es gab andere Möglichkeiten. Eine öffentliche Klarstellung von Otto. Ein Widerruf des Films. Ein Paragraph auf Theaterplakaten überall in der Welt. Ich beendete den Brief, warf ihn in den Briefkasten vor der örtlichen Post und fuhr nach Hause, mit einer Hand am Steuer.
Ich erwartete nicht, so schnell von Otto zu hören, aber das hinderte mich nicht daran, jeden Tag im Postamt der Nachbar Stadt nach einer Antwort zu schauen. Jeden Abend hielt ich auf meinem Heimweg dort an,
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