Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
Vom Netzwerk:
18 Uhr Weltzeit: Tief »Fitzroy«, vorwiegend Nord, 4 bis 5, später aus unterschiedlichen Richtungen, Gewitterschauer … Ich machte meinen Vermessungslauf, zählte, wie viele Schritte man brauchte, um von der einen Seite des Gartens zur anderen zu kommen. Zwölfeinhalb Schritte in der Länge, sieben in der Breite. Als ich unter der Wäscheleine hindurchtauchte, hielt ich mich an einem Laken fest und hinterließ einen Schmutzfleck. Meine Finger waren vom Blättern im Branchenbuch immer noch schwarz. Die Lösung für besondere Fälle. Das war es, was ich jetzt brauchte. Eine Lösung für das Unmögliche. Für den Sonderfall. Wie schafft man es, aus einer geschlossenen Gondel zu verschwinden? Ich dachte an die junge Frau auf dem Motorrad. An Dads Nassrasierer, den Salim benutzt hatte. Ich dachte an den fremden Mann und daran, wie die Frau gesagt hatte, er sei gefeuert. Und wie er gesagt hatte, wir müssten die »Schnecke« mit denschwarzen Haaren finden. Und ich dachte daran, was Tante Gloria gesagt hatte: »Wenn allein der reine Verstand Salim zurückbringen könnte, dann wär es deiner, Ted.«
    Ich legte beide Hände auf die Ohren und schüttelte meinen Kopf aus. Mein Gehirn fühlte sich an wie überhitzt, als würde es zerschmelzen. Ich durchmaß den Garten ein zweites Mal und zählte wieder die Schritte, aber diesmal kam die falsche Zahl heraus – elfeinhalb statt zwölfeinhalb Schritte, also waren in den letzten paar Minuten entweder meine Beine gewachsen oder das Universum war geschrumpft, anstatt sich weiter auszudehnen. »Wrrrreeuuurrr«, machte ich, wie die Motorräder in der Ausstellungshalle. Ich schaute zum Himmel hinauf. Es war Abend. Hohe Stratuswolken, aus südwestlicher Richtung frischte es auf, aber das Barometer fiel. Eines von Dads T-Shirts auf der Wäscheleine schlug mir gegen den Kopf. Es wurde stürmischer. Ich ging zum Schuppen hinüber und trat ein paarmal dagegen.
    Ich bin kein Philosoph. Ich bin Meteorologe. Aber ich glaube an die Kraft der Meditation. Die Buddhisten glauben daran, dass man zur Erleuchtung gelangt, wenn man seinen Kopf leert. Gegen den Schuppen zu treten ist eine gute Methode, den Kopf zu leeren. Genau wie Trampolinspringen. Man tritt oder springt, man springt oder tritt, und schließlich kommen einem all die Gedanken zu den Ohren raus wie eine Karawane aus Spielzeugsoldaten, die auf die Tischkante zumarschieren. Und man selbst bleibt leer zurück – das leere Nichts, von dem Salim erzählt hatte und das beängstigend und einsam ist, aber einfach und klar.
    Ich schloss die Augen, stellte mir eine weite stille Leere vor und trat dabei immer noch gegen den Schuppen. Nach dem siebenundachtzigsten Tritt war ich innerlich leer und eine Art Sonnenwind erreichte mein Gehirn. Ein Strom aus geladenen Partikeln durchschoss blitzartig meinen Kopf und entlud sich dabei in seltsam aufleuchtenden bunten Farben. Ein Bild formte sich. Es war wie ein Polarlicht, das sich in mein Gehirn brannte, so heftig funkelnd, dass es wehtat. Das Muster, das ich zuvor an diesem Tag nur schemenhaft wahrgenommen hatte, flutete zurück. Doch diesmal verschwand es nicht. Ich fing es ein. Ich hielt es fest. Und fror es ein, wie Eis.
    Da begriff ich. Nicht, wo Salim war. Aber wie er es geschafft hatte, auf diese Weise zu verschwinden.

33
    Das Getöse des Sturms
    Wenn man sich mitten in einem Sturm mit Leuten zu unterhalten versucht, können sie einen nicht hören. Wegen des Getöses, das der Sturm verursacht, können sie deine Worte nicht verstehen.
    Donner, Regen und Wind.
    Und dann die Gegenstände, die der Sturm bewegt: Blätter, Dachziegel, Müll.
    Als ich aus dem Garten kam, war ich siebenundachtzig Schuppentritte weiser, aber niemand wollte mir zuhören. Dad kam gerade von der Arbeit. Mum saß immer noch auf der Treppe. Sie stürzte auf ihn zu, ehe er seinen Mantel ausgezogen hatte. Ihre Arme umschlangen ihn und ihr Kopf sank auf seine Schulter.
    Â»Oh, Ben. Ich bin so froh, dass du zu Hause bist.«
    Â»Faith, Liebling … was ist passiert? Schlechte Nachrichten?«
    Â»Nicht seit unserem letzten Gespräch. Das Fernsehen war hier. Glo ging es den ganzen Tag über furchtbar. Heute Nachmittag hatte sie eine Panikattacke. Sie bekam keine Luft. Ichhab den Arzt gerufen und er gab ihr eine Schlaftablette. Sie ist oben und liegt flach, zum ersten Mal schläft sie

Weitere Kostenlose Bücher