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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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richtig, seit Salim verschwunden ist. Und dann sind die Kinder einfach irgendwohin gegangen, ohne zu fragen. Und Ted hat einen Zettel mit der Nachricht hinterlassen, sie wären schwimmen. Stell dir das mal vor! Er hat gelogen, Ben. Ich war völlig ratlos und dachte, sie wären auch noch verschwunden. Dann ist Rashid durch die Straßen gelaufen. Er meinte, das Rumsitzen und Warten würde ihn nur verrückt machen. Und gerade eben kamen die Kinder zurück. Ach, Ben, ich war so erleichtert. Sie kamen zur Tür rein und Kat und ich … Kat und ich …«
    Â»Beruhige dich.«
    Â»Wir hatten einen Streit.«
    Â»Was ist daran neu?«
    Â»Einen furchtbaren Streit, Ben. Ich hätte sie fast ins Gesicht geschlagen, ich war so kurz davor …« Sie hielt Daumen und Zeigefinger nach oben, mit ein paar Zentimetern Luft dazwischen. Sie begann wieder zu heulen. Dad sagte zum zweiten Mal »Beruhige dich«, aber sie hörte nicht auf. Ich stand nur ein paar Meter von ihnen entfernt.
    Â»Dad«, sagte ich. Er antwortete nicht.
    Â»Mum«, sagte ich. Sie antwortete nicht.
    Ich wartete ab und versuchte es noch mal. »Dad. Mum.«
    Mum blickte sich um und schluckte. »Oh, Ted«, sagte sie. »Da bist du ja. Kannst du nicht nach oben gehen und ein Buch lesen oder so was?«
    Â»Aber Mum, ich hab herausgefunden …«
    Â»Sei still, Ted«, sagte Dad. »Das ist jetzt der falsche Augenblick.«
    Die Worte klangen kurz und hart, gar nicht wie Dads Stimme sich sonst immer anhörte, und Mum fing wieder zu weinen an, also ging ich nach oben.
    In meinem Zimmer lag Kat mit dem Gesicht nach unten auf der Luftmatratze. Sie hatte die Faust geballt und zwischen ihre Augenbrauen gedrückt. Ich bemerkte, dass mein Wecker auf dem Boden lag, zerlegt in seine Einzelteile. Das war das Krachen gewesen, das ich vorhin während des Tornados gehört hatte.
    Â»Kat«, sagte ich.
    Sie schüttelte den Kopf. Die Haut rings um ihre Augen verzog sich zu knautschigen Falten. Eine Träne quoll hervor und lief ihr langsam die Nase hinunter. Sie wischte sie nicht weg.
    Â»Kat, ich glaube, ich hab’s.«
    Sie stöhnte auf.
    Â»Die Theorien. Die neun Theorien. Ich glaube, ich weiß, welche die richtige ist.«
    Â»Oh, Ted! Du und deine Theorien.« Sie griff nach einem Kissen und vergrub ihren Kopf darunter.
    Ich ging hin und klopfte ihr auf die Schulter. »Die Theorien, Kat.«
    Sie blickte von dem Kissen auf. »Hau ab!«, zischte sie.
    Â»Kat«, sagte ich und fügte »Schwesterherz« hinzu, weil sie es mag, wenn ich sie so nenne. Sie meint, dann klinge ich so normal. Aber dieses Mal funktionierte es nicht.
    Â»Ted … ich will’s nicht wissen. Verdammt noch mal, verzieh dich!«
    Â»Kat …«
    Sie nahm das Kissen und schlug mich damit auf die Schulter. »Das ist, damit du endlich mit diesem Ich-bin-zu-doof-zum-Scheißen-Blick aufhörst«, sagte sie. Dann warf sie sich hin und fing an zu schluchzen.
    Als Nächstes ging ich in Kats Zimmer, in dem Tante Gloria lag.
    Aber sie schlief tief und fest, was mich nicht groß wunderte, weil ich von Mum ja wusste, dass Tante Glo eine Schlaftablette genommen hatte. Schlaftabletten sorgen dafür, dass die Gehirnströme sich beruhigen und ein Muster wie im Schlaf annehmen. (Ich würde gern mal eine probieren, nicht etwa, weil ich Schlafprobleme habe, sondern um rauszufinden, wie mein Gehirn mit seinem anderen Betriebssystem darauf anspricht.) Tante Gloria lag auf dem Rücken in einer Diagonale auf dem Bett, ihr Fuß hing über den Rand, und die Bettdecke war ganz verzogen. Sie hatte den Mund leicht geöffnet, und ihr Atem klang laut und tief. Ihre Augenlider hatten die Farbe von Prellungen, wie lila angelaufen. Ich hätte sie nicht wecken können, beim besten Willen nicht.
    Als ich mich gerade wieder hinausschleichen wollte, entdeckte ich Kats Exemplar von Shakespeares Der Sturm . Das Buch lag aufgeschlagen mit der Schrift nach unten auf der Decke. Kat hatte das Stück in der Schule gelesen, genau wie Salim. Hatte Tante Gloria es etwa auch gelesen? Salim hatte gesagt,dass er in dem Stück mitgespielt hätte und dass es genau meine Baustelle wäre. Nun wurde mir klar, dass er meinte, es würde mir gefallen, weil es nach einer dramatischen Wetterkonstellation benannt worden war, und Wetter interessiert mich von allen Dingen ja am meisten. Ich griff nach dem

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