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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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wollte Kat gerade fragen, was es bedeutete, als sie sagte: »Ich schleich mal eben zu diesem Kneipenfenster da rüber, Ted. Du rührst dich nicht vom Fleck.«
    Ich schaute zu, wie sie sich heranpirschte. Sie näherte sich dem Erkerfenster wie ein 007-Agent mit dem Auftrag, die Welt zu retten. »Er hängt an der Theke rum!«, zischte sie zu mir herüber. Ich stellte mir vor, dass an der Vorderseite der Theke große Haken zum Aufhängen der Gäste befestigt waren.
    Kat warf einen zweiten Blick hinein. »Er hat ein hohes Glas mit dunkelbraunem Zeugs vor sich stehen, und er hat kaum was davon getrunken«, meldete sie. »Er guckt fern, auf einem großen Bildschirm.«
    Sie kam wieder zu mir. »Das kann noch eine Weile dauern. Komm, wir gehen auf die andere Straßenseite und stellen uns beim TV-Laden neben die Bushaltestelle da drüben. Wir können so lange fernsehen, und die Leute werden einfach denken, dass wir auf den Bus warten.«
    Wir überquerten die Straße an der Ampel und starrten auf die Fernsehbilder im Schaufenster: Menschen, die sich unterhielten, lachten und die Köpfe schüttelten – eine Nachmittagsspielshow. Wir konnten die Leute sehen, aber nicht hören. Es gab achtzehn verschiedene Fernsehgeräte zur Auswahl, aber bei allen war derselbe Sender eingestellt. Die Spielshow war zu Ende und es folgten die Nachrichten. Achtzehn Bildschirme mit Soldaten in einem fremden Land, die schwer bewaffnet staubige Straßen entlangliefen. Achtzehnmal afrikanische Kinder ohne Kleider und mit großen Augen, die von Fliegen umzingelt waren. Man konnte sehen, dass sie am Verhungern waren. Achtzehnmal der Premierminister, der auf einer Tagung eine Rede hielt; seine beiden Hände schlackerten über dem Rednerpult, ein bisschen so wie meine.
    Und dann: achtzehnmal unser Wohnzimmer, unser Sofa, Rashid, Tante Gloria mit ihrem weißen Pullover, ihren orangefarbenen Lippen, ihren blassen Wangen. Sie sagte etwas. Die Kameras zoomten dicht an sie heran. Ich konnte das Wort von ihren Lippen lesen. Bitte. Kat schnappte nach Luft.
    Â»Tante Glo!«, stieß sie hervor. »Unser Wohnzimmer! Im Fernsehen!«
    Â»Das hab ich vergessen dir zu sagen.«
    Â»Du hast vergessen, es mir zu sagen?«
    Â»Sie haben ein Fernsehteam bestellt.«
    Â»Ein Fernsehteam?«
    Â»Die kamen mit einem großen Transporter.«
    Â»Sie kamen, als ich weg war?«
    Â»Ja, Kat.«
    Â»Und du hast mir nichts davon erzählt?«
    Â»Nein.«
    Kat rollte mit den Augen.
    Â»Ich hatte keine Gelegenheit, Kat. Wegen der vielen Motorräder.«
    Wir schauten zu, wie sich die achtzehn Bilder unseres Wohnzimmers in achtzehn Bilder von Salim verwandelten. Jenes Foto, auf dem er den Blazer seiner Schuluniform trug und weder glücklich noch traurig aussah. Dann wurde eine Telefonnummer eingeblendet, unter der man sich bei der Polizei melden sollte.
    Der Bericht war zu Ende. Der nächste handelte von der neuesten Marsmission und zeigte eine Robotersonde, die Gesteinsproben von der Marsoberfläche aufsammelte. Kat starrte auf das Bild, ohne es zu sehen, und leierte weiter die ganze Zeit »Unser Wohnzimmer. Im Fernsehen« vor sich hin. Mich interessierten die Aufnahmen der kargen Landschaft und ich grübelte darüber nach, welche klimatischen Bedingungen auf dem Mars wohl herrschten und ob dort wohl jemals Leben existiert hatte. Keiner von uns beiden bemerkte etwas, ehe es zu spät war. Eine Hand packte mich hart an der Schulter. Und Kat. Wir fuhren herum. Vor uns stand der fremde Mann.
    Er roch nach Alkohol. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und er presste die Lippen aufeinander. Ich wusste, was das bedeutete. Wut. Extreme Wut.
    Sein Griff auf meiner Schulter wurde so fest, dass es wehtat. »Ihr schon wieder«, zischte er.

30
    Die Straße ins Nichts
    Kat schwieg. Ich auch.
    Sein Griff lockerte sich. Er trat einen Schritt zurück und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ihr seid mir gefolgt, stimmt’s? Ihr seid mir von der Biker-Show bis hierher gefolgt.«
    Kat nickte.
    Â»Dieses vermisste Kind. Das in den Nachrichten. War es das Kind, das ihr gesucht habt?«
    Â»Ja«, sagte Kat. »Aber es ist nicht einfach irgendein Kind. Es ist unser Cousin. Salim.«
    Â»Wieso glaubt ihr, ich hätte irgendwas damit zu tun?«
    Â»Weil es direkt passierte, nachdem Sie uns das Ticket gegeben haben. Salim fuhr

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