Der Junge, der sich in Luft auflöste
Buch, setzte mich an Kats Schreibtisch und begann zu lesen.
Ganz vorne gab es eine lange Liste mit Personen. So beginnen Theaterstücke immer. Der Autor erklärt einem, wer wer ist und wie die Figuren miteinander verwandt sind, und das Ganze nennt man Liste der handelnden Personen. Auf dieser standen eine ganze Menge Männer, einige seltsam klingende Geister und eine Frau namens Miranda â ich erinnerte mich, dass Kat sie als dumme Schlampe bezeichnet hatte. Dann las ich die erste Szene, verstand sie aber nicht, weil die Sprache fast so schwer verständlich wie Französisch war, was das Schulfach ist, in dem ich am schlechtesten bin. Ich las sie noch mal und dann noch ein drittes Mal, ehe ich begriff, dass sie von einem sinkenden Schiff in einem Sturm handelte. So weit war ich gekommen, als ich hinter mir ein Stöhnen hörte und deswegen den Kopf hob.
»Salim?« Es klang, als redete Tante Gloria im Schlaf. »Salim?«
Ich tappte leise zum Bett hinüber, den aufgeschlagenen Sturm in meiner Hand. »Nein, Tante Gloria, ich binâs. Ted.«
Sie sah mich an. Das Weià ihrer Augen war blutunterlaufen, was passiert, wenn man geweint hat oder zu lang und intensiv auf denselben Fleck starrt.
»Ted?«, sagte sie. Sie sah das Buch und lächelte. »Ich habe gerade drin gelesen, um besser einschlafen zu können. Salim hat letztes Schuljahr in dem Stück mitgespielt.«
»Ich weiÃ, Tante Gloria. Er hat es mir erzählt.«
Wieder lächelte sie. »Den schönen jungen Prinzen Ferdinand. Mein Salim.«
Sie drehte sich zur Seite und rollte sich weinend zusammen. Ich stand schweigend da, unsicher, ob ich ihr meine Hand auf die Schulter legen oder sonst etwas tun sollte. Nach einer Weile merkte ich, dass sie eingeschlafen war. Ich legte das Buch wieder neben sie und verlieà das Zimmer.
DrauÃen auf dem Treppenabsatz blieb ich stehen und horchte auf das Haus. Alles war still. Seltsam, dass mich trotz dieser Stille niemand hören konnte. Nach und nach nahm ich die Geräusche wahr, die Häuser immer machen, wenn die Menschen in ihnen ruhig sind. Knarrende Dielen, die sich auf den Estrich absenken. Gurgelnde Wasserrohre in den Wänden. Das Summen der Zentralheizung. Ich hielt mich an der Treppe am Geländer fest. Und noch etwas hörte ich: wie mein Herz klopfte, das Pulsieren des Blutes in meinen Ohren, das entfernte Ticken der Uhr in der Diele unten. Die Zeit. Auch die Zeit hatte ihr Geräusch, das war mir früher nie aufgefallen. Ich presste die Hände auf die Ohren. Es war schrecklich laut.
Mum tauchte am Fuà der Treppe auf. Sie kam leise nach oben und schloss mich in die Arme. Ich wand mich.
»Mum â¦Â«, sagte ich. »Ich habe es herausgefunden.«
Sie tätschelte mir den Kopf, als hätte ich nichts gesagt, ging an mir vorbei und klopfte an die Tür meines Zimmers. Es kam keine Reaktion, aber sie drückte trotzdem die Klinke hinunter, ging hinein und schloss die Tür hinter sich. Von drinnen hörte ich ihre Stimme, sanft und traurig. Dann die von Kat. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten.
Ich lief nach unten und kam gerade in dem Moment dort an, als Rashid mit Hilfe des Ersatzschlüssels die Haustür aufsperrte und eintrat. Er stand in der Diele und starrte vor sich hin, ohne dass ich den Blick hätte deuten können.
»Onkel Rashid â¦Â«, sagte ich.
»Was? Oh. Hallo, Ted.«
Dad kam aus dem Wohnzimmer und begrüÃte ihn mit den Worten »Möchtest du eine Dose Bier?«, und die beiden gingen in die Küche.
Als ob ich gar nicht existierte.
Ich ging ins Vorderzimmer und zum Kaminsims, wo die Karte von Kriminalkommissarin Pearce lag. Ich nahm sie in die Hand und starrte sie an. Telefongespräche sind nicht gerade meine Stärke. Aber ich wusste noch, wie sie mich angelächelt hatte, als ich von dem Anruf auf Salims Handy berichtete, und wie sie gesagt hatte, dass sie froh wäre, wenn ihre Beamten nur halb so viel Verstand hätten wie ich. Sie hatte mir zugehört.
Normalerweise benutze ich das Telefon nur etwa einmal in der Woche, was daran liegt, dass ich niemanden habe, den ich anrufen müsste. Aber Mum lässt mich manchmal bei der Auskunft anrufen, weil sie meint, dass ich mehr Ãbung brauche.Nun war ich kurz davor, das Telefon bereits zum zweiten Mal an diesem Tag zu benutzen â viel mehr Ãbung, als mir lieb war. Ich setzte mich in die Ecke
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