Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
mich. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ohne ihn gewesen zu sein. Ich bin immerzu damit herumgelaufen und habe mir Geschichten oder Musik angehört. Und dann habe ich eines Tages eine CD gefunden, die mir gesagt hat, was ich tun soll. Ich nehme immer Batterien mit, wenn ich welche sehe.«
»Was meinst du?«
»Siehst du all die Bücher, die da auf dem Tisch liegen?«
»Ja.«
»Er hat mir beigebracht, wie lesen geht. Er hat mit mir geredet.«
»Darf ich mal hören?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Vogel geht um den Tisch herum und nimmt ein Buch in die Hand.
»Das ist das erste Buch, das ich gelesen habe«, sagt er und fängt an, darin zu blättern. »Ich kann jede Seite auswendig.«
Nanna geht zum CD-Spieler und drückt auf den Startknopf, bevor Vogel es verhindern kann.
Aus dem Lautsprecher kommt eine Stimme. Ein Mann sagt: Lieber Ask. Heute wollen wir …
Mehr hört Nanna nicht, denn Vogel nimmt ihr den CD-Spieler ab und schaltet ihn aus.
»Heißt du Ask?«
Vogel schüttelt den Kopf.
»Nein. Ich bin Vogel.«
»Du heißt Ask«, sagt Nanna.
»Ask ist weg«, sagt Vogel.
»Wieso willst du nicht Ask heißen?«, fragt Nanna.
Vogel schaut sie an.
»Ich bin Vogel. Niemand anderes kann mir einen Namen geben. Ich habe mir selbst einen Namen gegeben. Ich habe mir selbst alles gegeben.«
»Jemand hat dir aber den Namen Ask gegeben. Einen sehr schönen Namen. Die Stimme, die man auf der CD hören kann. Ist das dein Vater?«
»Ich glaube ja«, sagt Vogel und geht um den Tisch herum zu Nanna.
»Kannst du dich an Ask erinnern?«
»Ja. Er hatte Angst und wohnte hier. Komm, ich zeige dir noch etwas.«
Vogel geht durch die Eingangshalle zur Treppe. Das gelbe Licht der Laterne erhellt die Wände und spiegelt sich in einem Kronleuchter, der unter der Decke hängt. Nanna folgt ihm nach oben in eins der Zimmer. Vogel setzt sich auf ein schmales Bett. Neben dem großen Fenster ist ein Teleskop aufgestellt und auf dem Boden steht eine Kiste mit Spielzeug. Die Tapete hat ein blaues Muster mit Märchenfiguren. Das Bücherregal an der Wand reicht bis unter die Decke.
»Was für ein schönes Zimmer«, sagt Nanna.
»Findest du?«
»Ja, es ist wunderschön.«
»Hier fing alles an. Das ist das Erste, woran ich mich erinnere. Ich war in diesem Zimmer und habe gespielt, dann ging ich nach unten und das Haus war leer. Und als ich anfing zu suchen, fand ich heraus, dass die ganze Welt leer ist.«
»Ist das hier Asks Zimmer?«
»Ja«, sagt Vogel. Er steht auf und geht zu dem Teleskop.
»Hier habe ich immer gesessen und die Sterne beobachtet. Einen nach dem anderen, und gehofft, dass ich irgendwann einen Planeten entdecken würde, der voller Menschen ist. Mit blauem Meer und weißen Wolken. Oder einen grünen Planeten. Davon habe ich geträumt. Von einer neuen Welt. Aber ich habe nie eine entdeckt. Ich wünschte, ich könnte noch mal ein kleiner Junge sein und hier sitzen und spielen. Und wenn ich nach unten gehe, ist die Welt wieder zum Leben erwacht.«
Nanna geht zu ihm und schaut durch das Teleskop. Ein bläulicher Planet leuchtet zitternd im Dunkeln.
»Das ist die Venus«, sagt Vogel.
»Sie ist schön«, sagt Nanna.
»Nichts kann dort leben. Alles ist tot.«
Vogel setzt sich auf die Fensterbank und lehnt sich ans Fenster. Nanna stellt sich neben ihn.
»Die Welt ist wieder zum Leben erwacht, Vogel. Denk an dein Gewächshaus. Und wir sind doch auch hier. Fride und ich.«
Vogel senkt den Kopf.
»Ihr werdet verschwinden.«
Nanna lehnt sich an ihn.
»Ask«, sagt sie. »Wir werden nicht ohne dich gehen. Das verspreche ich dir.«
»Aber ich muss hierbleiben«, sagt er verzweifelt.
»Vielleicht kannst du mit uns zum Bunker kommen und nach ein paar Tagen fahren wir wieder zurück? Dann können wir uns gemeinsam um das Gewächshaus kümmern.«
»Aber die Pflanzen werden es alleine nicht schaffen.«
»Doch. Wenn wir ihnen genug Wasser geben, schaffen sie es bestimmt. Und es ist doch nur für ein paar Tage.«
»Denkst du?«
»Ja. Wir werden nicht ohne dich gehen. Du musst mitkommen.«
Vogel hebt das Kinn ein wenig und schaut sie lange an, dann lächelt er, während er den Kopf wieder senkt.
»Ich bin froh, dass du mir diesen Ort gezeigt hast«, sagt Nanna. »Jetzt fahren wir zu Fride zurück.«
32
»Vogel!«, ruft Nanna. »Fride ist weg!«
Neben dem leeren Bett liegt der Schlafsack auf dem Boden und die Taschenlampe ist verschwunden.
»Wir hätten sie nicht alleine lassen dürfen«, sagt Nanna
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