Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
schrägen Dach und der Boden ist von braunen, glitschigen Pflanzenresten bedeckt. Der Geruch ist so schlimm, dass es Nanna übel wird. In der Mitte unter der Kuppel ist ein runder Teich mit grünem, schleimigem Wasser.
»Ist das dein Geheimnis?«, fragt sie.
»Ja.«
»Was soll das? Willst du hier wohnen?«
»Nein. Natürlich nicht.«
»Aber was denn dann?«
»Kommt mit«, sagt Vogel.
Er verschwindet zwischen zwei Palmen. Fride schlüpft sofort hinterher.
Nanna bleibt zwischen den groben, zerfaserten Stämmen stehen und starrt sprachlos auf ein paar üppige Pflanzen, die an einem Baum dahinter hochgebunden sind. Ihr Grün wirktso unnatürlich und das Rot viel zu kräftig. Die Farben passen irgendwie nicht hierher. Die Blätter sehen gesund aus und die Stängel biegen sich unter der Last reifer Tomaten schwer nach unten.
»Sind die nicht schön? Ich habe sie eines Tages entdeckt, als ich mich im Frühjahr aufwärmen wollte. Hier drinnen wird es so schnell warm. Ich war schon oft hier. Aber an diesem Tag fiel mir etwas Grünes auf. Ein winzig kleines Blatt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also habe ich es gegossen, damit es nicht wieder stirbt.«
Fride starrt die roten, glänzenden Tomaten an, die in dicken Rispen an der Pflanze hängen. Sie streckt eine Hand aus und berührt sie.
»Vorsichtig Fride, nicht anfassen«, sagt Nanna.
Fride zieht die Hand zurück.
»Darf ich eine haben?«, fragt sie und schaut Vogel an.
Er nickt.
»Ja, nimm ruhig.«
Fride streckt wieder die Hand aus, pflückt eine kleine Tomate und steckt sie in den Mund. Sie schließt die Augen und kaut.
»Oh, ist das gut«, murmelt sie. »Du musst auch probieren, Nanna.«
Vogel pflückt noch eine Tomate und reicht sie ihr. Sie platzt, als Nanna hineinbeißt und der süße Saft füllt ihren Mund.
»Versteht ihr nicht?«, sagt Vogel. »Die Pflanzen werden wieder wachsen. Aber ich brauche Hilfe. Vielleicht gibt es noch andere Pflanzen, die hier drinnen gedeihen würden.«
Nanna schaut Fride an und lächelt.
»Vogel hat recht«, sagt sie. »Die Natur wird wieder wachsen.«
»Wie schön!«, sagt Fride.
Nanna betrachtet die grünen Stängel zwischen all den welken Pflanzen. So wird es auch draußen wieder aussehen. Kleine Knospen, die zwischen all dem Toten sprießen werden.
»Müssen wir heute wieder fahren?«, fragt Fride.
Nanna zögert.
»Wir bleiben bis morgen«, sagt sie. »Wir müssen nachdenken.«
Vogel zieht eine Tüte aus der Tasche und pflückt die reifen Tomaten.
»Wir sollten zusehen, dass wir zu Hause sind, bevor es dunkel wird«, sagt er nach einer Weile.
Nanna und Fride packen ein paar Tomaten in die Jackentaschen und dann gehen sie. Sie gleiten durch die Straßen. Zum ersten Mal spürt Nanna, wie das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Angst ein wenig nachlässt. Sie sieht ein Gewächshaus voller Pflanzen, Blumen und Obst vor sich. Wie das Leben sich langsam ausbreitet. Gras und Bäume werden grün. Blumen öffnen sich, Insekten fangen an zu summen und die Welt füllt sich wieder mit Leben. Nach und nach zeigen sich die ersten Vögel und im Meer schwimmen wieder Fische. Und schließlich kehren die Menschen zurück. Sie schaut nach hinten zu Fride und denkt, dass sie beide alt werden können. Dass sie in einer Wohnung wohnen, zur Schule gehen und spielen werden.
»Worüber lächelst du?«, fragt Vogel.
Nannas Lächeln wird noch breiter und dann fahren sie zurück zum Baumhaus.
31
Mitten in der Nacht wird Nanna wach und setzt sich im Bett auf. Fride liegt neben ihr, aber Vogels Bett ist leer. Leise steht sie auf und geht nach draußen.
Vogel sitzt auf einem dicken Ast und schaut in den Sternenhimmel. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und lehnt am Stamm. Nanna sagt nichts. Sie geht zu ihm und setzt sich neben ihn.
»Stimmt was nicht?«, fragt sie und wischt eine Träne weg, die über seine Wange rollt.
Vogel weicht ihr aus und dreht den Kopf weg.
»Was ist denn los? Warum weinst du?«
»Manchmal kann ich nicht schlafen. Dann sitze ich hier und denke nach«, sagt Vogel.
»Worüber denkst du nach?«
Vogel antwortet nicht.
»Mir geht es oft genauso«, sagt Nanna. »Ich wache mitten in der Nacht auf und kann nicht mehr einschlafen. Dann ist mein Kopf ganz leer und gleichzeitig voller Gedanken. Wenn ich im Bunker wach geworden bin, war es immer stockdunkel. Man konnte gar nichts sehen. Da dachte ich manchmal, jetzt bin ich nur noch Gedanken und sonst nichts.«
Vogel steht auf.
»Willst du mich in
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