Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
zeigt auf das Riesenrad.
»Warst du schon mal auf dem Rummelplatz?«, fragt Nanna.
»Ja. Aber nicht so oft. Alles steht still. Das macht ja keinen Spaß.«
»Fride würde so gerne auf den Rummel«, sagt Nanna.
»Wir können morgen hingehen«, sagt Vogel.
»Ist es noch weit?«
»Nein. Wir müssen hier entlang«, sagt Vogel und rollt einen steilen Hügel hinunter.
Das Wasser im Hafen ist still. Die großen Lagerhallen starren mit ihren riesigen Öffnungen aufs Meer. Kräne beugen sich über Türme aus viereckigen Containern.
Zwischen leeren Güterwaggons und Passagierzügen folgen sie den Gleisen, die in den Asphalt eingelassen sind, in einem sanften Bogen zum Fluss, vorbei an einer Eisenbahnwerkstatt mit hohen Fenstern, hinter denen Lokomotiven ohne Räder stehen und große Metallteile herumliegen. Vogel biegt in eine Unterführung ab und für einen Moment ist alles ganz schwarz. Nanna fährt blindlings weiter und merkt, wie sie Angst bekommt, obwohl außer ihnen niemand hier ist. Dann wird es Meter für Meter heller und sie kommen auf der anderen Seite der Bahnlinie wieder an die Oberfläche. Sie lassen den Hafen hinter sich.
Unten am Fluss stehen große Holzvillen mit Gärten, die direkt ans Ufer grenzen, mit kleinen Bootshäusern und eigenen Anlegern. Müll und Planken sind auf die Wiesen gespült worden. Entlang der Straße stehen weiße Gartenzäune, vertrocknete Fliederbüsche zwängen sich zwischen den Latten durch. Unvermittelt bleibt Vogel vor einem großen, weißen Tor stehen und lehnt sein Rad an den Zaun.
»Hier ist es«, sagt er leise.
»Das verstehe ich nicht ganz«, sagt Nanna und stellt ihr Rad neben Vogels. »Ist das hier der Himmel?«
»Ja. Deshalb wollte ich es dir zeigen. Komm, dann siehst du es«, sagt Vogel und öffnet das Tor.
Dahinter ist ein großer rechteckiger Hof, umgeben von welken Büschen. In der Mitte steht eine hohe Eiche, aber auf dem Boden liegt kein altes Laub. Da ist nur heller Kies, der rund um den Baum ordentlich in Streifen geharkt ist.
»Hab keine Angst. Hier gibt es nichts, vor dem man sich fürchten muss«, sagt Vogel und geht die große Treppe hoch.
Er zieht einen Schlüssel aus der Tasche und schließt auf. Die Tür gleitet auf. Vogel schaut Nanna an und lächelt bescheiden.
»Hier ist es. Tritt einfach ein.«
Es riecht muffig. Vogel macht hinter ihr eine Laterne an und das Licht fällt auf die Wände. Mitten in der großen Eingangshalle steht ein Weihnachtsbaum. Die Nadeln sind abgefallen, aber der Schmuck hängt noch.
»Hier bin ich gestorben«, sagt Vogel und setzt sich auf die Treppe.
»Wie meinst du das?«
»Das ist der erste Ort, an den ich mich erinnern kann. Ich weiß noch, wie ich durch das ganze Haus gelaufen bin und jemanden gesucht habe, aber ich konnte niemanden finden. Ich bin hier geblieben, bis ich nichts mehr zu essen hatte. Und als ich nach draußen ging, waren keine Menschen mehr da. Deshalb nenne ich es den Himmel. Ich dachte, ich wäre tot.«
Nanna setzt sich neben ihn und legt einen Arm um seine Schulter.
»Und weißt du, was das Schlimmste ist?«, fährt er fort.
»Nein.«
»Ich weiß gar nicht mehr, nach wem ich gesucht habe.«
»Aber das müssen doch deine Eltern gewesen sein?«
»Ja. Aber ich kann mich nicht an sie erinnern.«
»Gibt es keine Fotos von ihnen?«
»Doch. Aber das hilft mir trotzdem nicht. Die Bilder sagen mir nichts.«
»Wie oft kommst du her?«
»Nicht so oft. Ich bin gerne hier und gleichzeitig auch wieder nicht. Früher bin ich öfter gekommen. Ich hatte gar keine andere Wahl.«
»Warum?«
»Um in die Schule zu gehen und CDs zu hören.«
»CDs?«
»Komm mit, ich zeige es dir.«
Vogel nimmt Nanna an die Hand. Sie gehen in ein Zimmer mit vielen, hohen Bücherregalen. Auf einem großen Tisch in der Mitte des Raums stapeln sich Bücher und CDs. Daneben steht die Dose, die Nanna oben im Nest unter der Matratze gefunden hat. Vogel geht hin und hebt sie hoch.
»Willst du sie sehen?«, flüstert er.
Nanna nimmt die Dose. Sie öffnet den Deckel und schaut hinein. Es ist fast nichts drin, nur ein paar abgegriffene Fotografien. Eine davon zeigt einen kleinen Jungen, der sich vor dem Haus, in dem sie jetzt sind, auf ein Dreirad stützt.
»Bist du das?«, fragt Nanna.
»Ja.«
»Das sind schöne Bilder.«
»Ja.«
Am anderen Ende des Tischs steht ein CD-Spieler. Er ist rotmit einer blauen Blume da, wo der Lautsprecher ist. Vogel hebt ihn hoch und drückt ihn an sich.
»Das hier ist das Wichtigste für
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