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Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Titel: Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Henrik Nielsen
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den Himmel begleiten?«, fragt er.
    »In den Himmel?«, sagt Nanna und schaut zu den Sternen, die in die Nacht hinausblinken.
    »Ja. So nenne ich es. Es ist ein ganz besonderer Ort.«
    »Was ist mit Fride?«
    »Sie schläft. Es ist nicht weit.«
    »Ich kann sie nicht alleine lassen. Was ist, wenn sie aufwacht?«
    »Sie wacht nicht auf. Wenn du jetzt nicht mitkommst, wirst du es nie sehen.«
    Vogel springt auf einen schmalen Ast.
    »Sei vorsichtig«, sagt Nanna.
    Doch Vogel schaut nur starr in die Nacht.
    »Bitte, komm mit.«
    Nanna hat seine Stimme noch nie so gehört. Vielleicht klingt sie in Wahrheit immer so, denkt sie.
    »Bitte«, sagt Vogel. »Ich würde es dir so gerne zeigen.«
    Nanna geht in die Hütte und schaut nach Fride. Sie hat sich nicht gerührt, seit sie eingeschlafen ist. Nanna legt die Taschenlampe neben ihren Kopf, wartet einen Augenblick, ob Fride doch wach wird, dann geht sie raus zu Vogel.
    Er lächelt und klettert langsam nach unten.
    Nanna folgt ihm. Sie tastet sich im Dunkeln mit den Beinen vor. Vogel hat den Anhänger abgekoppelt und sitzt schon auf seinem Fahrrad. Sie rollen den Hügel hinunter und überqueren den Wasserfall, der im Mondlicht unter der Brücke glitzert.
    »Wir fahren zum Hafen«, sagt Vogel. »Das ist nicht weit.«
    Nanna spürt, dass er sich freut. Etwas an seinen Bewegungen ist anders als sonst. Sie fahren in die Stadt. Die Straßen sindstill und alle Fenster sind dunkel. Nachts ist es nicht mehr so schlimm. Da ist es, als würden alle schlafen, als wären nur sie und Vogel wach.
    »Schau«, sagt Vogel und zeigt auf einen kleinen Kiosk an einer Straßenecke.
    In den runden Fenstern hängen Zeitungen und Illustrierte.
    »Da ist es schön. Das war einer meiner ersten Orte. Dort habe ich eine Weile gewohnt. Jetzt komme ich nur noch her, um mir etwas zu lesen zu holen. Im Kiosk gibt es alle möglichen Zeitschriften und Bücher.«
    Die Straße wird breiter und mündet in einer großen Kreuzung mit Straßenbahnschienen und einem Verkehrskreisel in der Mitte.
    »Siehst du die Statue dort drüben auf dem Dach?«, sagt Vogel und zeigt auf ein Gebäude.
    Nanna schaut hoch und sieht einen Engel, der sich neben einem Dachfenster nach vorne beugt.
    »Da habe ich auch mal gewohnt«, sagt Vogel. »Mehrere Winter lang. Der Dachboden führt über den ganzen Häuserblock. Auf der anderen Seite ist ein Gebäude mit vielen Geschäften und einem großen Supermarkt im Keller. Ich musste nicht ein einziges Mal das Haus verlassen. Wenn es kalt war, konnte ich Wochen lang drinnen bleiben, den Ofen anheizen und lesen. Am schönsten war es, wenn es geschneit hat. Wenn ich morgens rauskam, und frischer Schnee gefallen war, hielt ich nach Fußspuren Ausschau. Aber da waren nie welche und so wusste ich, dass es keinen Grund gab, sich zu fürchten.«
    »Hast du nicht manchmal schrecklich Angst gehabt? Jeder hat doch mal Angst.«
    »Schon. Denke ich. Als ich kleiner war. Aber ich habe nichtso viel darüber nachgedacht. Später, als ich die Stadt nach und nach übernahm, wurde es besser. Mit jedem Sommer und jedem Winter. Alles in dieser Stadt gehört jetzt mir.«
    »Hast du nie daran gedacht fortzugehen?«
    »Doch. Jeden Tag. Aber ich wusste nicht, wohin ich hätte gehen sollen. Ich ging in den Hafen und sah mir die Schiffe an. Ging an Bord und malte mir aus, wie es wäre, an einen Ort zu fahren, an dem andere Menschen wohnen. Aber es ist ja alles kaputt. Es wäre auch gar nicht gegangen. Ich war zu klein. Ich konnte fast nichts.«
    »Was hast du dann gemacht?«
    »Ich bin rumgelaufen. Habe Geschäfte entdeckt, in denen es Essen und andere Dinge gab. Untersuchte die Dinge. Zog an verschiedene Orte. In manchen Wohnungen versuchte ich, so viel wie möglich über die Leute herauszufinden, die früher dort gewohnt haben. Ich sah mir die Kleider an und Fotos, und wenn mir die Familie gefiel, bin ich eine Weile geblieben.«
    »Hast du nie andere Menschen vermisst?«
    »Ich glaube nicht, aber vielleicht doch. Ich weiß es nicht. Ich bin eben hier.«
    Vor ihnen öffnet sich die Stadt, der Fjord erstreckt sich dunkel bis zu den Inseln. Unter ihnen liegt der Hafen, das Riesenrad am Ufer steht still. Die Eisenbahnschienen folgen dem Fluss und auf der gegenüberliegenden Seite steht eine Reihe weißer Häuser. Der Rauch auf der Brücke hat nachgelassen, aber es brennt immer noch.
    »Sie sind noch da«, sagt Nanna.
    »Ja. Sie werden noch eine Weile auf den Brücken bleiben. Schau lieber woandershin«, sagt Vogel und

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