Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
verzweifelt.
»Sie ist sicher nicht weit«, sagt Vogel ruhig.
»Woher willst du das wissen? Vielleicht haben die Schatten sie geholt.«
Im selben Moment hören sie, wie vor dem Holzhaus etwas den Baumstamm herunterrutscht. Als sie sich umdrehen, blendet sie ein Lichtstrahl und sie müssen wegschauen. Nanna erkennt gerade noch eine schwarze Gasmaske.
»Sie sind gekommen!«, ruft Nanna und weicht zurück.
Vogel bleibt ganz ruhig stehen. Nanna blinzelt in das grelle Licht. Als die Gestalt den Lichtstrahl senkt, erkennt sie sofort Frides Hose und ihr gestreiftes T-Shirt.
»Fride«, ruft sie. »Was machst du da!«
Frides Kichern blubbert aus der Gasmaske und sie zieht sie vom Kopf.
»Ich habe euch erschreckt«, sagt sie lachend.
»Gib mir das«, sagt Vogel und nimmt ihr die Gasmaske ab.
»Was sollte das, Fride?«, fragt Nanna.
»Ich bin aufgewacht und ihr wart nicht da.«
»Woher hast du die Gasmaske?«
»Sie lag unter ein paar Anziehsachen versteckt in einer Kiste. Ich weiß, ich hätte nicht reingucken dürfen. Aber mir war so langweilig und ich wusste nicht, wann ihr wiederkommt.«
Nanna schaut die Gasmaske an und dann Vogel, der reglos in der Tür steht. Da begreift sie, wie Vogel so lange alleine leben konnte, ohne erwischt zu werden.
»Du bist einer von ihnen. Du bist ein Schatten«, sagt sie.
Fride schaut zu Nanna, als würde sie gar nichts mehr verstehen.
»Vogel ist einer von ihnen. Er hat uns reingelegt, Fride.«
Nanna stellt sich zwischen ihre Schwester und Vogel.
»Mach Platz«, sagt sie. »Mach auf der Stelle Platz.«
Vogel bleibt stehen. Er sieht traurig aus. Seine Arme hängen herunter.
»Ihr versteht es nicht«, sagt er.
Nanna hebt ihren Rucksack auf, ohne Vogel aus den Augen zu lassen.
»Wann kommen die anderen?«, fragt sie.
Vogel lehnt den Kopf an den Türrahmen und schaut Nanna an.
»Ich wusste, dass wir dir nicht trauen können«, fährt sie fort.
Vogel sagt immer noch nichts.
»Wo sind die andern?«
Nanna macht einen Schritt auf Vogel zu. Tränen laufen über seine Wangen.
»Weinst du?«, fragt Nanna wütend. »Mach Platz!«
»Bleibt doch, bitte«, sagt Vogel.
»Mach Platz«, sagt Nanna und nimmt einen Stock, der an der Wand lehnt.
Vogel macht einen Schritt zur Seite und Fride und Nanna gehen an ihm vorbei.
»Wie viel Zeit haben wir noch, bis die anderen kommen?«, fragt Nanna. »Das kannst du uns doch wenigstens sagen.«
Vogel schaut sie lange an. Er sieht so klein und traurig aus. Seine Augen glänzen und sein Mund zittert.
»Es gibt keine anderen«, sagt er.
»Wie meinst du das?«
»Es gibt niemanden hier außer mir«, sagt Vogel und schleudert die Gasmaske auf den Boden.
»Es gibt keine anderen?«
»Nein. Nur mich.«
Nanna schaut Vogel an. Er ist so alleine. Aber sie können ihm nicht mehr vertrauen.
»Wir gehen jetzt, Fride«, sagt sie.
Sie nimmt Fride die Taschenlampe ab und leuchtet Vogel direkt an, während Fride den Baum hinunterklettert.
»Setz dich in den Anhänger, wenn du unten bist«, sagt Nanna und stellt den Fuß auf die erste Sprosse.
»Bitte, geht nicht«, sagt Vogel. »Bitte.«
Nanna zögert.
»Aber ich habe die Schatten doch gesehen«, sagt sie.
»Das war ich.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Es war nur ich.«
»Deshalb konnten wir heute Nacht durch die Stadt fahren? Weil du wusstest, dass nichts passieren würde?«
»Ja.«
»Aber warum?«
»Ich wollte nicht, dass ihr geht.«
»Aber du hast uns Angst eingejagt. Und du hast im U-Bahnschacht versucht, uns zu erschießen.«
»Ich habe nicht versucht, euch zu erschießen.«
»Was ist mit den Bränden?«
»Ich habe die Feuer gelegt, bevor ich zur Wohnung gekommen bin.«
»Wir fahren jetzt und versuch nicht, uns zu folgen«, sagt Nanna, aber sie zögert noch, nach unten zu klettern.
»Bleibt hier«, sagt Vogel.
»Ich verstehe nicht, wieso du das mit den Schatten machen musstest, obwohl wir uns mit den Lampen zugeblinkt haben. Ich dachte, jemand der Signale sendet, will uns Gutes«, sagt sie und verschwindet bis zum Bauch zwischen den Zweigen.
»Ich weiß nicht, was du damit meinst«, sagt Vogel und geht auf sie zu.
»Du hast mit den Lampen geblinkt«, sagt Nanna und zeigt hoch zum Baumwipfel. »Und ich habe geantwortet.«
»Ich habe nicht geblinkt«, sagt Vogel.
»Dreimal grün und dann einmal rot. Ich habe mit der Taschenlampe geantwortet.«
»Ich habe nicht geblinkt. Die Lampen waren seit Jahren nicht mehr an. Sie hängen nur da. Ich habe immer nach Lichtern Ausschau
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