Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
heute vor?«, fragt Papa.
»Plim hat keine Lust mehr hier zu sein. Er will raus.«
Nanna schaut Papa an. Er wird still. Sie essen weiter.
»Wann können wir denn raus?«, fragt Nanna vorsichtig.
»Ich weiß es nicht«, sagt Papa. »Wenn es draußen sicher ist. Ihr dürft nicht zu viel darüber nachdenken. Jetzt sind wir hier. Wir sind in Sicherheit und es geht uns gut.«
»Aber es ist doch schon so lange her, dass jemand im Haus war. Und der Leuchtturm leuchtet seit Ewigkeiten nicht mehr. Wir könnten doch vielleicht einfach einen kleinen Ausflug nach oben machen?«
»Ja!«, sagt Fride.
»Keine Diskussion«, sagt Papa. »Wir wissen nicht, ob es sicher ist und deshalb können wir den Bunker nicht verlassen. Wir haben das schon so oft besprochen. Irgendwann gehen wir raus. Eines Tages. Ganz bestimmt. Aber ihr seid zu klein, um euch daran zu erinnern, wie es damals war. Es war … Egal. Lasst uns jetzt nicht mehr darüber reden. Geht in den Periskopraum und lest ein bisschen, ich räume das Frühstück weg.«
Papa räuspert sich, er beugt sich nach vorne und hält sich an der Tischkante fest.
Nanna tut es leid, dass sie etwas gesagt hat. Meistens fühlt sie ganz deutlich, dass sie drei zusammengehören, aber wenn sie über die Welt da oben sprechen, dann kommt es ihr vor, als wäre Papa plötzlich sehr alleine und auf eine Weise traurig, die sie nicht versteht, weil er doch die Entscheidung getroffen hat, mit ihnen unten im Bunker zu bleiben.
Papa fängt an aufzuräumen. Nanna und Fride gehen in den Periskopraum und ziehen die Tür hinter sich zu. Mitten im Zimmer ragt das Periskop aus der Decke. Es ist aus glänzendemMessing und es gibt verschiedene Griffe und Räder, an denen man es einstellen kann. Unten zwischen den Handgriffen steht etwas hervor, das einem Fernglas oder einer Taucherbrille ähnelt – da schaut man durch.
Papa sagt, dass der Bunker mit dem Periskop schon auf der Insel war, als ihr Großvater das Haus baute. Der Bunker wurde während eines Krieges vor langer, langer Zeit errichtet, um die Fahrrinne im Fjord zu überwachen, und Großvater konnte den Bunker später billig kaufen, weil niemand dachte, dass er noch irgendwie nützlich sein könnte. Aber Großvater setzte einfach ein Haus obendrauf und nutzte den Bunker als Keller. Das Periskop saß allerdings so fest, dass er das Rohr ins Haus miteinbauen musste. Der Bunker geriet in Vergessenheit. Bis sie aus der Stadt flüchten mussten.
●
Der Periskopraum ist vollgestellt mit Bücherregalen und es gibt mehrere alte Sofas, auf denen man gemütlich lesen kann. In einer Ecke ist das alte Puppentheater aufgebaut. Aus einem roten Bademantel hat Papa den Bühnenvorhang gemacht. An der Wand steht ein Schreibtisch mit Schubladen, auf dem das aufgeschlagene Logbuch liegt. Daneben ist die Tür zum Funkraum. Sie steht einen Spaltbreit offen. Dort drinnen befindet sich jede Menge alter Funkausrüstung und manchmal spielen sie damit Raumschiff. Dann stellen sie sich vor, sie wären weit gereist, um fremde Planeten mit ihren Seen, Flüssen und geheimnisvollen Wäldern zu erforschen. Nanna geht zum Periskop, klappt die Griffe aus und drückt die Augen an die sprödenGummiringe. Im Bunker ist es immer ziemlich dunkel und das grelle Licht von oben blendet sie.
»Heute ist schönes Wetter«, sagt sie.
»Lass mich mal«, sagt Fride und versucht, sich nach vorne zu drängeln.
»Warte doch. Du darfst ja gleich gucken«, sagt Nanna lachend. »Ich muss nur erst die Observation machen. Du kannst mitschreiben.«
»O.k.«
Nanna dreht das Periskop langsam weiter.
»Bist du so weit?«
»Ja«, sagt Fride am Schreibtisch.
»Blauer Himmel und Sonne. Wind in den Bäumen.«
»Ja«, sagt Fride.
»Im Wohnzimmer ist alles ruhig. Alles liegt an derselben Stelle wie immer.«
Nanna dreht das Rohr einmal fast im Kreis und folgt der Bewegung mit ihrem Körper.
»Niemand auf den Felsen und niemand in der Bucht.«
»Was ist mit den Bäumen?«, fragt Fride.
»Keine Veränderung. Nur totes Laub.«
»Keine Veränderung?«
»Nein. Willst du jetzt gucken?«, fragt Nanna.
»Nein«, sagt Fride mutlos.
Nanna dreht das Periskop zurück. Ihr Blick wandert durch das Wohnzimmer oben im Haus. Alles sieht aus wie jeden Tag. Das grüne Sofa steht da, wo es stehen soll, der Tisch steht da, wo er stehen soll, und es ist auch keine Scheibe eingeschlagen. Auf dem Boden vor dem Schrank in der Ecke liegen ein paar Schachteln und eine kaputte Glasschüssel. Daher wussten sie,dass
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