Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
geht langsam in den Keller. Die steile Betontreppe ist rutschig und glatt und sie muss sich am Geländer festhalten. An der Decke hängen Glühbirnen und leuchten schwach. Der Keller besteht aus verschiedenen Räumen. Das Vorratslager, zu dem nur Papa den Schlüssel hat, ist der größte Raum. Daneben gibt es noch mehrere andere Räume – den Heizungskeller, in dem der Generator steht, der ihren Strom produziert, die Werkstatt mit einer kleinen Hobelbank, die Rumpelkammer, in der sie alles Mögliche aufbewahren, das sie nicht brauchen, die Toilette, den Brunnenraum und den Waschkeller mit der Sprossenwand, in dem auch der Wassertank steht, und noch ein paar mehr, die leer sind.
Langsam geht Nanna durch den Keller und leuchtet in jede Ecke.
»Fride, wo bist du? Ich finde dich«, sagt sie und versucht, neugierig zu klingen.
Im Waschkeller ist es stockdunkel und mitten auf dem Boden liegt ein großer Berg dreckiger Wäsche. Nanna lächelt. Sie schleicht sich an und sagt: »Ich bin ja so müde. Ich glaube, ich muss mich ein bisschen hinsetzen.«
Dann setzt sie sich mitten auf den Wäschehaufen, aber nichts passiert. Fride kommt nicht rausgekrabbelt, wie sie es schon so oft getan hat. Nanna sucht an den vielen üblichen Stellen: im Rumpelkammerschrank, im Luftschacht hinter dem Öltank im Heizungskeller, wo Fride schon mal steckengeblieben ist, in der Materialkiste, die in der Werkstatt steht, aber Fride ist nirgends. Nanna geht zurück in den Gang und leuchtet einmal im Kreis um sich herum. Sie will gerade wieder die Treppe hochgehen, als sie etwas entdeckt, das ihr vorher nicht aufgefallen ist. Die Tür zum Vorratslager steht einen Spaltbreit offen. Papa muss vergessen haben, sie zuzumachen. Das ist ihm noch nie passiert. In letzter Zeit vergisst er so viel, den Abwasch, die Schmutzwäsche, und oft bekommen sie erst am späten Vormittag ihr Frühstück. Hat Fride sich vielleicht da versteckt? Vielleicht sitzt sie wie ein Mäuschen zwischen den Vorräten und knabbert Schokolade. Dann wird Papa richtig sauer.
Nanna geht näher, aber sie wagt es fast nicht, die Tür aufzuschieben. Wie oft haben sie sich ausgemalt, was alles im Vorratslager ist! Schokolade, Schinken, Dosenananas und Spaghettisoße. Dinge, die es nur zum Geburtstag oder an Weihnachten gibt. Sie können stundenlang herumfantasieren, was sie bekommen werden. Und immer ist es etwas Gutes. Sie öffnet die Tür und geht rein, aber im ersten Moment erkennt sie gar nicht, wo sie ist. Die leeren Regale gehören nicht hierher. Sie zieht die Tür hinter sich zu und lässt den Lichtkegel der Taschenlampe kreisen. Es sind fast keine Vorräte mehr da, nur ein paar Reste auf einem Regal ganz hinten. Sie ist den Tränen nah und ihr wird fast übel. Dürfen sie deshalb nicht hier rein – weil das Lager fast leer ist?
»Fride«, ruft sie leise. »Fride?«
Keine Antwort.
»Fride, komm jetzt. Das ist nicht mehr lustig.«
Nanna tastet sich an der Wand entlang und leuchtet in jede Ritze. Und hinter einem leeren Regal entdeckt sie etwas. Einekleine eiserne Luke, die offen steht. Sie macht sich klein und ruft in die Dunkelheit: »Fride! Fride!«
Aber Fride antwortet nicht.
Nanna leuchtet in den Tunnel. Es ist nichts zu sehen, nur graue Betonwände, die nach oben führen. Vielleicht ist Fride in ein Loch gestürzt? Es gibt so viele Tunnels und Luftschächte hier im Bunker, die nirgendwohin führen. Nanna nimmt die Taschenlampe zwischen die Zähne und kriecht vorsichtig los. Sie schlängelt sich durch den engen Gang nach oben.
»Fride«, ruft sie undeutlich.
»Fride!«
Keine Antwort. Nanna kriecht weiter, es wird immer nasser und glitschiger. Endlich erreicht sie einen kleinen Raum mit Betonwänden und da riecht sie es: Seeluft und etwas Unbestimmtes, Erdiges. Sie stürmt aus dem Zimmer in einen Gang. Am Ende des Ganges ist eine kleine Treppe, die zu einer zweiten Luke führt.
5
Am Anfang ist alles weiß. Das grelle Sonnenlicht blendet Nanna und sie kneift die Augen zusammen. Nach und nach tritt eine düstere Landschaft aus dem hellen Licht hervor. So weit das Auge reicht, sind die Bäume bis auf einzelne braune Blätter kahl. Das Gras ist gelb und trocken und außer dem Wind und den Wellen, die an den Strand rollen, ist nichts zu hören. Keine zwitschernden Vögel, keine summenden Insekten. Die Blumen unter den Büschen sind alle verdorrt. Die Kiefer, unter der Mama und Papa früher abends immer saßen, steht trocken und geborsten auf dem Hügel. Grau liegen die
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