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Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Titel: Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Henrik Nielsen
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Schäreninseln am Horizont. Alles, was Nanna sehen kann, ist tot.
    Sie hebt den Blick und schaut zum Festland. Die verwüstete Landschaft mit den kranken Bäumen setzt sich fort. Zwischendurch gibt es große Gebiete, wo die Bäume kahl und schwarz sind, als wäre alles verbrannt. Die Wälder, die früher so schön waren, sehen nur noch bedrückend aus. Die Luft brennt auf der Haut und Nanna zittert im Wind. Sie schaut zurück zu dem schwarzen Loch, aus dem sie gekommen ist.
    Sie sind draußen. Was wird jetzt passieren?
    Nana schaudert und blinzelt nach oben in den Himmel. Er ist klar und blau und das macht es fast noch schlimmer. Der Himmel sieht aus, wie er immer ausgesehen hat. Das Schreckliche, das passiert ist, wird dadurch noch unbegreiflicher. Wäre der Himmel krankhaft gelb, voller Giftwolken, dann wäre das wie eine Erklärung, aber der Himmel ist wie früher. Und doch ist alles anders.
    Nanna dachte, es würde ein gutes Gefühl sein, rauszukommen, aber jetzt bereut sie es fast. Vielleicht wäre es besser gewesen zu warten. Sie schaut sich um und duckt sich. Sie hat gar nicht mehr daran gedacht, dass es hier gefährlich sein könnte. Der Waldrand ragt dunkel am Ende der alten Wiese auf. Sie versucht, auf Bewegungen zu achten, auf etwas Lebendiges, aber es ist schwierig, etwas zu erkennen. Die Bäume verschwimmen zu einer dichten Masse aus braunen Zweigen und welkem Laub. Außer dem Wind, der die Zweige bewegt, regt sich nichts. Fride, denkt sie. Wo ist Fride? Sie schaut zurück. Farbe blättert vom Haus und die Dachziegel sind von einer schlammigen, braunen Schicht überzogen. Einige Fenster sind vernagelt. Plötzlich hört sie ein Geräusch von der anderen Seite des Hauses. Nanna läuft um die Hausecke und da, auf der Veranda, in der alten Hollywoodschaukel, sitzt Fride und schaukelt.
    »Fride! Da bist du ja«, sagt Nanna und greift nach Frides Händen.
    Fride schaut einfach an ihr vorbei.
    »Ist alles okay mit dir?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Was ist denn? Hast du jemanden gesehen?«
    »Nein. Niemanden. Ich fühle mich nur ein bisschen komisch.«
    »Wir sind draußen, Fride«, flüstert Nanna. »Was meinst du mit ›komisch‹?«
    »Na ja, die Luft ist so komisch und alles ist so groß. Ich habedas Gefühl, als würde ich fallen. Ist das immer so, wenn man draußen ist?«, fragt Fride.
    »Nein. Du bist nur nicht daran gewöhnt, im Freien zu sein. Und früher war es auch anders«, sagt Nanna und setzt sich neben sie in die Hollywoodschaukel.
    »Wie denn anders?«
    »Die Bäume und das Gras.«
    »Ach so. Aber das ist mir egal. Ich gehe nie wieder zurück in den Bunker. Nie im Leben.«
    Nanna sieht sich um. Sie versucht zu erkennen, ob sich zwischen den Bäumen etwas von den graubraunen Stämmen abhebt. Zwischen zwei Bäumen hängt eine Wäscheleine und unter ein paar Büschen liegt ein blaues Kanu, aber sonst ist nichts zu sehen.
    Sie schaukeln ein bisschen, dabei schauen sie aufs Meer und auf den Pfad, der sich zwischen altem Gestrüpp und kleinen Felsen zur Bucht hinunterschlängelt. Sie sehen den Steg und den roten Bootsschuppen. Daneben erstreckt sich ein kleiner Strand bis zur Landzunge, voll mit Treibholz, zerrissenen Schnüren und Plastik.
    »Worüber lachst du?«, fragt Nanna.
    »Über den Wind. Der kitzelt so«, sagt Fride und windet sich.
    Nanna schließt die Augen und spürt, wie der Wind ihr sacht über die Wangen streift. Ein bisschen kalt und ein bisschen warm, mit dem Duft von Salz und Meer. Jetzt muss sie auch lächeln. Denn jetzt ist es genau so schön, wie sie es in Erinnerung hat.
    »Ja. So muss es sein«, sagt sie.
    »Schau mal der viele Müll am Strand«, sagt Fride.
    »Ja, bei einem Unwetter wird viel angespült. Wir haben denStrand früher immer im Frühjahr sauber gemacht und dabei viele seltsame Sachen gefunden.«
    »Wollen wir ans Wasser gehen?«, fragt Fride.
    »Nein, nicht jetzt. Es könnte gefährlich sein«, sagt Nanna. »Wie hast du eigentlich die Luke entdeckt?«
    »Das war ja nicht schwer. Ich habe sie fast sofort gesehen, als ich in den Vorratskeller gegangen bin. Ich bin ja viel kleiner als du. Das ist manchmal gar nicht so dumm«, sagt Fride und hüpft von der Schaukel. Sie spaziert über die Veranda und betrachtet die alten Blumentöpfe und Körbe, die in einer Ecke aufgestapelt sind.
    »Was denkst du passiert, falls Papa uns erwischt?«, fragt Fride.
    »Dann wird er stinksauer sein. Aber jetzt waren wir zumindest schon mal draußen. Und wenn wir es schaffen, uns noch ein

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