Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
brüllt Papa und stürmt zur Eisentreppe.
Nanna spürt, wie seine starken Arme sie nach unten ziehen und festhalten. Sie versucht, sich aus seinem Griff zu winden, aber Papa lässt nicht los und zieht auch Fride zu sich. So stehen sie lange da. Papa will sie nicht loslassen. Nanna bohrt den Kopf in seine Brust und versucht, ihre Enttäuschung und die Tränen zu verbergen. Papa drückt sie beide fest an sich, bevor er nach oben klettert und die Luke sichert.
»Wie konntet ihr nur?«, fragt er. »Ihr wisst doch gar nicht, was euch draußen erwartet.«
»Ja, aber wir halten es hier unten nicht mehr aus. Hier gibt es nichts zu tun. Ich hasse den Bunker!«, sagt Nanna und fängt doch an zu weinen.
Fride schluchzt schon laut.
»Ich weiß, meine Mädchen, aber wir haben keine Wahl. Wenn uns jemand sieht, ist womöglich alles aus. Das versteht ihr doch?«, sagt er und schaut zur Luke.
»Aber da oben ist niemand. Wir sind doch auf einer Insel«, sagt Fride.
»Es war aber schon mal jemand hier«, sagt Papa. »Und außerdem gibt es ja auch noch die Krankheit.«
»Ist mir egal, ob ich krank werde«, sagt Fride. »Ich will lieber raus.«
»So was möchte ich nicht hören«, sagt Papa streng.
»Ja, aber …«, sagt Fride.
»Ihr dürft nie wieder versuchen, nach oben zu schleichen. Versprecht ihr mir das?«
Nanna nickt. Fride schüttelt den Kopf.
»Versprichst du mir das, Fride?«
Fride schüttelt wieder den Kopf.«
»Offenbar nicht. Dann muss ich wohl abschließen«, sagt Papa traurig.
»Aber Papa. Können wir nicht wenigstens kurz raufgehen?«, fragt Nanna.
»Nein. Geht jetzt in den Periskopraum. Wolltet ihr nicht Mensch-ärgere-dich-nicht spielen?«, sagt Papa und setzt sich auf die Treppe.
Sie nicken.
»Kommst du mit?«, fragt Nanna vorsichtig.
»Nein, geht ihr nur.«
4
Ein paar Wochen später sitzen Fride und Nanna im Periskopraum und langweilen sich. Die Zeit kriecht dahin und trotzdem verrinnen die Stunden. Jeder Tag ist gleich und alles, was sie machen, wird immer eintöniger. Papa schläft und sie haben nichts zu tun. Die Tür zum Funkraum ist abgeschlossen. Jetzt darf nur noch Papa rein. Sie hören, wie er nachts an den Knöpfen dreht. Das endlose Rauschen der Lautsprecher klingt wie das Meeresrauschen in einer Muschel. Nanna stellt sich vor, dass sie auf dem Meeresgrund liegen und niemand sie jemals finden wird. Sie schaut zum Bücherregal, aber sie kann sich nicht überwinden, sich ein Buch zu holen.
»Wir könnten ein Kaffeekränzchen machen«, schlägt Fride vor.
»Langweilig«, sagt Nanna auf dem Sofa.
»Ach komm, das ist besser als nichts.«
»Nein, ist es nicht.«
»Kannst du dir nicht was Spannendes ausdenken?«
»Ich liege hier«, sagt Nanna.
»Aber das macht keinen Spaß, da zu liegen.«
»Immer noch lustiger, als da rumzustehen, wo du stehst, und sich zu langweilen.«
»Ach, menno. Du bist so langweilig. Können wir nicht was spielen?«
»Nein. Ich hab keine Lust. Spiel doch allein.«
»Es macht keinen Spaß, allein zu spielen.«
»Du bist selbst schuld, dass wir hier sind.«
»Nein.«
»Doch. Warum hast du Papa nicht versprochen, dass du nicht abhaust?«
»Weil ich rauswill!«
»Ja, aber jetzt passt Papa nur noch besser auf.«
»Er hat die Luke nicht abgeschlossen«, sagt Fride.
»Nein, aber wir müssen tun, was er sagt. Überleg dir, was du spielen willst.«
Fride fängt an, im Zimmer herumzulaufen und zu stöhnen. Dann singt sie.
»Nanna, Nanni, Nanna, Nanni, Nanna«, singt sie.
Nanna schaut hoch. »O.k., wir spielen im Keller verstecken.«
»Super«, sagt Fride und läuft aus dem Periskopraum.
Nanna fängt leise an zu zählen.
»Eins, zwei, drei …«
Sie legt sich zurück, während sie weiter zählt: »… zwölf, dreizehn, vierzehn …«
An der Decke hat sich ein grüner Ring aus Schimmel gebildet, der aussieht wie ein Gesicht. Er hat sich bis zu den Regalen ausgebreitet, inzwischen sind alle Bücher feucht, die Ränder aufgeweicht. Anfangs fand Nanna es gemütlich im Periskopraum mit den vielen Büchern, dem großen Schreibtisch und dem Periskop, das dafür sorgte, dass sie nach draußen schauen konnten, aber jetzt hat sie das alles satt. Papa schreibt nicht mehr länger an seiner Abhandlung über Gemälde, meistens schläft er nur. Ihre Spiele haben sie längst gespielt, alle Bücher längst gelesen und in den letzten Wochen hat Papa es nicht mehr geschafft, sie zu unterrichten. Alles scheint stillzustehen.
Sie nimmt die Taschenlampe aus dem Regal und
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