Der Junge, der Träume schenkte
den Unterricht am College, umgab sie, wenn sie mit ihren Eltern bei Tisch saß, verbarg die Schrecken der Nacht und die brutale Wirklichkeit des Tages vor ihr.
Am Fenster sitzend, nickte Ruth ein. Dann wachte sie wieder auf. Sie döste erneut vor sich hin und schlug abermals die Augen auf und schloss sie wieder. Und jedes Mal, wenn sie die Augen aufschlug, sah sie, dass für das Fest ein weiteres Zelt am Swimmingpool aufgestellt worden war. Je mehr Zelte für das Buffet hinzukamen, desto mehr wurde ihr die Sicht auf die acht Schwestern genommen. Aber Ruth wusste, dass sie da waren. Und sie wandte den Blick nicht ab. Nicht ein einziger Gedanke ging ihr dabei durch den Kopf, kein Gefühl drang in ihr Bewusstsein vor. Gedanken und Gefühle waren es, die ihr diese Kälte beschert hatten, gegen die nicht einmal die Sonne Kaliforniens etwas ausrichten konnte. Die Kälte, die sie in ihrem Leben erstmals gespürt hatte, als ihr Großvater gestorben war. Eine Kälte, gegen die es keine Abhilfe gab. Und so saß sie einfach reglos da, ohne auf die Scharen von Hausdienern und Hausmädchen zu achten, die unentwegt zwischen der Küche der Villa und den großen Tischen, auf denen sie das Buffet anrichteten, hin-und herliefen; ohne Interesse für die Klänge des Orchesters, das sich einspielte und die neuesten Schlager probte; taub für die eisige Stimme der Mutter, die ihren Mann einen Schlappschwanz schimpfte, einen Versager, einen Schatten von Opa Saul; taub für die brüchige, resignierte Stimme des Vaters, der seine Frau ein verwöhntes Weib ohne jede Fähigkeit zur Anteilnahme nannte; blind für das allmählich verblassende Tageslicht.
»Bist du noch immer nicht umgezogen?«, fragte die Mutter, als sie ins Zimmer trat, während draußen die acht Schwestern im flackernden Lichtschein der Fackeln, die rund um den Swimmingpool und entlang der Wege im Garten verteilt worden waren, zum Leben zu erwachen schienen.
Langsam drehte Ruth sich um.
Die Mutter deutete auf das Bett, auf dem etwas lag.
Ohne Neugier sah Ruth hin. Das Kleid war aus Seide, rubinrot, weit ausgeschnitten und ärmellos. Neben ihm lagen ein Paar ellbogenlange Handschuhe im gleichen Farbton. Und auf dem französischen Teppich ein Paar roter, hochhackiger Schuhe mit zwei schmalen Riemchen, die quer über den Fußspann verliefen.
»Entweder schwarze oder rauchgraue Strümpfe«, sagte die Mutter. Als stellte sie sich die Wirkung bildlich vor, schloss sie die Augen, um sie kurz darauf mit einem Kopfschütteln wieder zu öffnen. »Nein, rauchgrau, keine Frage«, entschied sie, wählte nach einem Blick in eine Schublade auch die Strümpfe aus und warf sie auf das Kleid. Anschließend öffnete sie eine weitere Schublade und kramte zwischen den Strumpfhaltern. »Wann entschließt du dich endlich, eine Frau zu werden?«, stöhnte sie, unzufrieden mit der Ausbeute. Sie ging aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit perlgrauen Strumpfhaltern in der Hand zurück. »Hier«, sagte sie. »Der Strumpfhalter muss so zart sein wie die Berührung eines Geliebten, wenn man ein Seidenkleid tragen will.«
Unterdessen hatte Ruth nicht eine Sekunde lang den Blick von dem Kleid auf ihrem Bett lösen können.
»Wenn du fertig bist, geh in mein Bad und leg einen Hauch Lippenstift auf, die Nummer sieben«, fuhr die Mutter fort. »Ich lasse ihn offen, dann kannst du ihn nicht verwechseln.«
Ruth rührte sich nicht.
»Hast du mich verstanden?«
»Ja, Mama.«
Die Mutter betrachtete sie einen Moment und zupfte ihr eine Haarlocke zurecht. »Möchtest du eine Kette anziehen?«
»Wie du willst«, gab Ruth zurück.
Die Mutter musterte sie mit kritischer Miene. »Lieber nicht«, urteilte sie. »Muss ich dich noch einmal daran erinnern, wie wichtig dieser Abend für deinen Vater ist?«
Ruth schaffte es, den Blick vom Bett abzuwenden und ihre Mutter anzusehen. Am liebsten hätte sie ihr gesagt, dass sie das rubinrote Kleid verabscheute. Doch sie konnte sich den Grund dafür nicht erklären.
Krack .
»Woran denkst du?«, fragte die Mutter gereizt.
»An nichts, Mama«, antwortete Ruth. An nichts, wiederholte sie in Gedanken, als wäre es ein Befehl. An nichts.
»Lächle und sei freundlich zu allen.«
Ruth nickte.
»Was bist du nur für eine Langweilerin ...«, brummte die Mutter im Hinausgehen. »Komm erst herunter, wenn alle da sind. Um halb neun«, rief sie ihr noch zu, während sie über den Flur davonging.
Ruth blieb einen Augenblick still sitzen, bevor sie wieder zu dem Kleid auf
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