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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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bedeckt. Sie nahm die letzte Treppenstufe. Draußen vor dem marmornen Eingangsportal sah sie sie. Die Gäste drängten sich alle um das Buffet neben den acht Schwestern, die sich nicht herabließen, mit ihnen zu reden. Ruth versuchte, genauer hinzusehen, aber sie erkannte keinen der Filmstars, denn wenn sie auf der Leinwand auch wie Engel wirkten, so waren sie im wahren Leben doch nichts als Heuschrecken, die zwischen ihren Furcht erregenden Backen zermalmten, was auch immer ihnen an Essbarem in den Weg kam. Ohne überhaupt zu wissen, wer es ihnen anbot. Sie waren Halbgötter, alles stand ihnen zu. Vielleicht aber, dachte Ruth, ahnen sie auch, dass ihr Ruhm nur von kurzer Dauer sein wird. »Ich werde auch nur von kurzer Dauer sein!«, rief sie lachend. »Guten Abend allerseits!« Dann brach sie zusammen. Mit dem Kopf prallte sie gegen den gusseisernen Pfosten des Handlaufs. Sie lachte und sah, wie ihre Mutter herbeigelaufen kam. »Mama ...«, murmelte sie beinahe liebevoll, fast so, als hätte sich neu aufkeimende Hoffnung in ihrer Kehle ausgebreitet und die Betonung des Wortes verfälscht. »Mama ...« Und während sie den Namen erneut aussprach, schien er ihr anders zu klingen, so als hätte sie »Opa« gesagt. Oder »Christmas«. Und da plötzlich – als die Mutter, gefolgt von zwei Dienstboten, an sie herantrat, als sämtliche Heuschrecken sich mit vollen Backen nach ihr umdrehten – verwandelte sich ihr Lachen für einen kurzen Moment in Weinen. »Weine ich Blut, Mama?«, fragte sie mit vom Alkohol und von den Pillen der Mutter belegter Stimme.
    »Ruth!«, zischte Sarah Isaacson ungehalten. »Ruth ...«
    »... mach kein Theater«, vollendete Ruth den Satz. Und während sie sich die Tränen abwischte, brach sie erneut in Gelächter aus. Mit einem Mal dann, einem Beben, einem Erdstoß gleich, packte sie die Wut. Sie stand auf, entwand sich den Armen, die sie hielten, gab einem der Hausdiener eine Ohrfeige und stieß die Mutter beiseite. Zornentbrannt sah sie zu den Heuschrecken hinüber, die schlagartig verstummt waren und sie anstarrten. Und als die Wut sie blitzschnell und unvermittelt wie Feuer auf einem Strohfeld überwältigte, bohrte sie die Fingernägel in ihr Kleid, in sich selbst, denn ihre Wut richtete sich nicht auf die Mutter oder die Heuschrecken, nicht auf Christmas oder Bill, sondern auf sich selbst. Sie bohrte die Nägel in ihr Kleid und zerriss es. Und so sahen alle, dass das Mädchen mit den roten Augen sich mit einer dicken Bandage die Brust abgebunden hatte.
    Als sie sich an dem Verband zu schaffen machte, nahmen die zwei Dienstboten sie fest in den Griff.
    »Es ist alles in Ordnung. Amüsieren Sie sich«, sagte die Mutter zu den Gästen, während Ruth, die von den Hausdienern die Treppe hinaufgetragen wurde, ihr Schweigen aus sich herausschrie.
    Ruth wurde aufs Bett geworfen.
    »Muss ich dich festbinden?«, fragte die Mutter mit eisigem, scharfem Blick.
    Ruth verstummte ebenso plötzlich, wie sie zu schreien begonnen hatte. Sie wandte das Gesicht ab. »Nein, Mama«, sagte sie leise.
    »Du hast deinem Vater den Abend ruiniert, ist dir das klar?«
    »Ja, Mama.«
    »Du bist verrückt.«
    »Ja, Mama.«
    »Jetzt muss ich mich um die Gäste kümmern«, fuhr die Mutter fort. »Danach rufe ich einen Arzt.«
    »Ja, Mama.«
    »Hinaus«, befahl Sarah Isaacson den beiden Dienern. Dann folgte sie ihnen aus dem Zimmer.
    Ruth hörte, wie die Zimmertür abgeschlossen wurde. Mit abgewandtem Gesicht blieb sie liegen. Reglos.
    Krack .
    Ein sanfter Laut nun. Ein freundlicher Laut. Gedämpft und matt.
    »Du hast deinem Vater das Fest ruiniert ...«, hob sie mit tonloser Stimme leise an. »Tu mir den Gefallen, Ruth ... Dein Vater hat sein ganzes Geld investiert ... unser Geld ... in die DeForest-Technik ... DeForest ... das weißt du doch, oder? Der Tonfilm ... Dein Vater ist nicht wie dein Großvater ... er ist nicht wie dein Großvater ... er ist nicht wie dein Großvater ... DeForest ... die DeForest-Technik ... sein ganzes Geld ... DeForest-Phonofilm ... pleite ... DeForest ist pleite ... die Produzenten ... dein Vater ist nicht wie Opa Saul ... Die Produzenten müssen ihm helfen ... Er ist nicht wie Opa Saul ... helfen ... helfen ... helfen ... Du hast deinem Vater den Abend ruiniert ... Opa Saul ... deinem Vater ... Du hast deinen Vater ruiniert ...«
    Krack .
    Wie ein sanfter Schlag.
    Ruth schwieg. Nichts drehte sich mehr. Wände und Decke und Fußboden standen still. Alles stand nun still. Alles war klar.

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