Der Junge, der Träume schenkte
Ihr Verstand war wach, ungetrübt.
Sie stand vom Bett auf, trat ans Fenster und öffnete es. Sie kletterte auf das Sims. Unten konnte sie die Heuschrecken sehen. Doch die gefräßigen Insekten sahen sie nicht. Allein die acht Schwestern wandten ihr den Blick zu und lächelten ihr zu. Und sie breiteten die Arme aus, ihr entgegen.
Ruth sprang in die Tiefe.
Krack .
Als sie unten inmitten der Festgäste auf den toskanischen Terrakottafliesen aufschlug, war sie für den Bruchteil einer Sekunde überrascht. Sie nahm nichts wahr. Wieder nahm sie nichts wahr. Keinen Schmerz, keine Schreie. Und sie sah keine Farben. In ihrem Mund war ein süßlicher Geschmack. Ihr Blut war süß geworden.
Dann endlich wurde es dunkel um sie.
38
Manhattan, 1926
Sieben breite Stufen aus grobkörnigem weißem Granit zählte Christmas. Er legte die Hand an den Metallgriff der Drehtür und betrat die Eingangshalle des Gebäudes an der West 55th Street, nicht weit entfernt von der Bank im Central Park, wo er sich einst mit Ruth getroffen hatte. Mit zögerlichen Schritten näherte er sich dem glänzenden Empfangstresen aus Wurzelholz. Am Empfang saßen zwei Frauen, blutjung die eine, um die vierzig die andere, beide attraktiv und identisch gekleidet. Und hinter ihren Köpfen prangte ein großer Schriftzug: N. Y. Broadcast .
»Ich soll mich heute vorstellen«, sprach Christmas die jüngere der beiden an.
Das Mädchen schenkte ihm ein Lächeln, während es zum Hörer des Haustelefons griff. »Mit wem sind Sie verabredet?«, erkundigte sie sich freundlich.
Christmas griff in seine Tasche und holte einen Zettel heraus, auf dem er sich einen Namen notiert hatte. »Cyril Davies.«
Das Mädchen zog die Stirn kraus und hob den Finger zum Zeichen, er möge warten. Daraufhin blickte sie zu ihrer Kollegin hinüber, die gerade telefonierte, und wartete, bis sie aufgelegt hatte.
Christmas schaute sich um und dachte aufgeregt: Ich hab’s geschafft. Ich hab’s tatsächlich geschafft.
»Kennst du die Nebenstelle von ... Cyril Davies?«, fragte das Mädchen die Kollegin.
Die Frau machte ein ratloses Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Sind Sie sicher, dass er hier arbeitet?«, wollte das Mädchen von Christmas wissen.
Prüfend sahen die beiden Frauen ihn an. Sie musterten seinen braunen Anzug von der Stange, die Narbe, die seine Unterlippe zeichnete und sich bis zum Kinn hinabzog.
»Bist du sicher?«, fragte auch die ältere.
»So wurde mir gesagt«, antwortete Christmas mit einem unbehaglichen Gefühl.
Die Vierzigerin hob eine Augenbraue und sagte, ohne den Blick von ihm abzuwenden, zu ihrer jungen Kollegin: »Sieh mal in der Liste nach.« Dann griff sie zum Telefon und wählte eine Nummer. »Mark«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, »wo bist du?«
Kurz darauf – während die jüngere eine lange Liste durchging und murmelte: »D ... D ... Dampton ... Dartland ... Davemport ...« – tauchte ein uniformierter Wachmann in der Eingangshalle auf.
»Probleme?«, fragte er mit Blick auf Christmas.
»Davidson ... Dewey ...«, fuhr unterdessen die junge Frau fort. »Kein Davies«, teilte sie der Kollegin mit.
»Tut mir leid«, sagte die ältere zu Christmas. »Kein Davies.«
»Man hat mir gesagt, ich soll mich heute vorstellen«, beharrte er. »Und das ist der Name.«
Die Vierzigerin griff nach der Liste und deutete mit dem Finger zwischen zwei Namen. »Nach Davidson kommt Dewey. Davies gibt es hier nicht, tut mir leid«, erklärte sie kühl.
»Das kann nicht sein«, widersprach Christmas.
»Mein Herr ...«, hob der Wachmann an und wollte Christmas am Arm greifen.
»Nein, das kann nicht sein«, wiederholte Christmas. »Ich bin hier eingestellt worden, um beim Radio zu arbeiten«, sagte er mit Nachdruck und wich einen Schritt zurück, damit der Wachmann ihn nicht zu fassen bekam.
»Mein Herr ...«, sagte der Mann abermals, die Hand noch immer nach ihm ausgestreckt.
»Sehen Sie noch einmal nach. Das kann nicht sein«, bat Christmas die junge Frau.
»Hier arbeitet kein Cyril Davies, Junge«, erklärte die Vierzigerin in kaltem Ton. »Tut mir leid«, murmelte die junge Frau und sah ihn an. »Cyril?«, fragte da der Wachmann. »Cyril Davies«, bestätigte Christmas.
Der Mann lachte und ließ den Arm sinken. »Das ist der aus dem Lager«, erklärte er den beiden Frauen. »Der Schwarze.«
»Cyril?«, wiederholte die Vierzigerin und schaute ihre junge Kollegin ratlos an. »Der Schwarze. Hast du verstanden, wer?«
Die junge Frau nickte vage,
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